Jenseits der benannten Orte mit einer klaren bildungsspezifischen Widmung, eröffnet auch der öffentliche (lokale) Raum diverse Ansatzpunkte für Bildungs- und Gestaltungsprozesse, die durchaus in verschiedenen Projekten berücksichtigt wurden und werden (z. B. das Engagement von Geschichtswerkstätten seit den 1970er Jahren, Stolpersteinprojekte und postkoloniale Initiativen seit den 1990er Jahren), jedoch insgesamt in der pädagogischen Praxis und in Diskursen eine eher weniger beachtete Rolle spielen.
Die Gründe hierfür sind vielfältig, wenngleich sie sich in zwei Aspekten verdichten:
- Pädagogisch-praktische Herausforderungen in der Didaktisierung und Formatausgestaltung (z. B. Witterung, akustische und visuelle Ablenkungen, aufwendige Recherchen)
- Schwierigkeiten für partizipative Prozesse durch die konfligierenden Raumnutzungs- und Aneignungshandlungen sowie Strategien diverser Akteur*innen (z. B. kommerzielle Zonen, fehlende Hinweise, Stadtplanung, Ordnungskräfte und Anwohner*innen, Interessen von Jugendlichen)
Dennoch liegen im öffentlichen Raum diverse Potenziale für historisch-politische Bildung. Zentral ist, dass öffentlicher Raum lebensweltlich für Kinder und Jugendliche hoch relevant ist, da er bewusst als Aufenthalts- und Erholungsraum oder als notwendiger Transit- und Bewegungsraum genutzt wird. Öffentliche Räume haben für junge Menschen sozialisierende Funktionen, in denen Kommunikation und Interaktion gelebt werden. Es finden informelles Lernen, Verselbstständigung, Repräsentation und Selbstdarstellung sowie Ausprobieren und Grenzüberschreitungen statt (vgl. BMFSFJ 2017, S. 251 ff.). Obwohl die Bedeutung und Nutzung öffentlicher Räume für und von Jugendlichen durch verschiedene Transformationsprozesse geprägt ist (z. B. Kommerzialisierung, Privatisierung, Zunahme der Bedeutung digitaler Räume) bleibt der öffentliche Raum lebensweltlich bedeutend und wird von Jugendlichen umfassend wahrgenommen und genutzt.
Neben der vielfältigen sozialen Interaktion wird der öffentliche Raum elementar durch seine bauliche Beschaffenheit geprägt und determiniert. Im Entstehungsprozess der Gestaltung haben verschiedene gesellschaftliche Akteur*innen diverse Spuren der Erinnerung an historische Ereignisse, Zeitspannen und Personen hinterlassen. Diese stellen sich in vielfältigen Repräsentationsmodi dar.
Der Inhalt und die Form des Erinnerns sind dabei durch Deutungen, Interessenlagen und gesellschaftliche (Macht-)Verhältnisse geprägt und konstruiert, die Individuen, soziale Gruppen oder sogar Nationen in einem Miteinander, aber auch konfliktreichem Gegeneinander aushandeln (vgl. Cornelißen 2012). Wer an wen oder was in welcher Form erinnert, ist demnach auch ein Fragment eines Spiegels der gesellschaftlichen Verhältnisse der Vergangenheit, aber auch der Gegenwart. Hierbei ist auch die Frage hochrelevant, an wen oder was nicht erinnert wird.
Insbesondere für lokale Projekte, die Teilnehmende adressieren, die an den jeweiligen Orten leben und diesen öffentlichen Raum bewusst oder unbewusst wahrnehmen, ergeben sich auf dieser Basis viele Themen und Möglichkeiten. Straßen, Plätze, Straßennamen und Denkmäler, aber auch nicht mehr sichtbare Bauten können zu Ausgangspunkten von Projekten werden (vgl. Baasch 2018, S. 60).
Für politische Bildung, die Geschichte und Erinnerungskultur thematisiert, bieten sich neben Projekten des Entdeckens von Orten und deren geschichtlichen Kontext auch Beteiligungsprojekte an. Diese können von temporärer Aneignung bestehender Räume (Gedenkveranstaltungen) bis hin zu Ausformungen von neuen Orten der Geschichtskultur reichen. Historisch-politische Bildung kann so den Anspruch erfüllen, in Bildungsprozessen gegenwartsbezogen, zukunftsorientiert und mit partizipativ Charakter zu wirken.
Hohes Potenzial für Jugendbildung bieten hierbei pädagogische Formate zu Ereignissen der Zeitgeschichte, die vergleichsweise wenige Jahre zurückliegen, lokalen Bezug haben und zu denen im unmittelbaren sozialen Umfeld der Adressat*innen vitale Erinnerungen bestehen.
Ein Beispiel für einen Ansatz aus diesem Bereich ist ein Format des Trägers Soziale Bildung e. V. aus Rostock, der die Geschichte zum Pogrom von Rostock-Lichtenhagen aufgreift. Neben den Möglichkeiten der noch sehr lebendigen Erinnerung wird hierbei in der Ausgestaltung der Bildungsprozesse intensiv auf den öffentlichen Raum und den dort entstandenen Orten des Gedenkens zurückgegriffen. Im Folgenden wird dieser Ansatz nach einem kurzen Exkurs zum Pogrom von Rostock-Lichtenhagen 1992 skizziert.
Öffentlicher Raum und Erinnerungskultur am Beispiel von Rostock-Lichtenhagen 1992 und dem Denkmal „Gestern Heute Morgen“
Pogrom Rostock-Lichtenhagen 1992 – Das Ereignis
Im Sommer 1992 eskalierte in Rostock-Lichtenhagen eine in den Vormonaten auf lokaler Ebene entstandene Stimmung gegen Migrant*innen zu einem Pogrom. Die Ereignisse waren sowohl davor als auch danach auf bundesrepublikanischer Ebene mit einem umfassenden Diskurs über die Einschränkung des Asylrechts verknüpft, die sich Anfang der 1990er in der Verschärfung des Asylrechts zuspitzte und in ihrer Symbolik und Rhetorik rassistische Ressentiments begünstigte.
1992 gab es schon vor den Ausschreitungen Meldungen von Angriffen auf Migrant*innen und es gingen Nachrichten bei der Lokalpresse ein, dass gewalttätige Übergriffe in Rostock-Lichtenhagen geplant wären (vgl. Prenzel 2012, S. 9 ff.).
Zwischen dem 22. und 26. August 1992 griffen hunderte Menschen mit Steinen, Brandsätzen und unter dem Beifall einer sich versammelnden Menschenmenge zunächst eine Unterkunft für Geflüchtete und später ein benachbartes Wohnheim vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen an. Die nicht ausreichend am Ort vertretenden Ordnungs- und Sicherheitskräfte wurden an der Umsetzung ihrer Aufgabe durch Zuschauer*innen und Angreifer*innen gehindert. Hinzu kam, dass Verantwortliche in Verwaltung und Politik unangemessen in der Situation handelten und die Eskalation zumindest indirekt begünstigten (vgl. ebd., S. 20 ff.)
Die von den Ausschreitungen betroffenen Asylbewerber*innen wurden am dritten Tag der Angriffe evakuiert. Am Abend dieses Tages wurden weiterhin rechtsradikale Parolen verbreitet, es fanden erneut Übergriffe gegen die Polizei statt und das Wohnhaus wurde wieder mit Brandsätzen attackiert. In dem nun brennenden Gebäude waren 120 Vietnames*innen, einige Unterstützer*innen, der „Ausländerbeauftragte“ der Stadt Rostock und ein ZDF-Fernsehteam eingeschlossen. Erst Stunden später war das Feuer gelöscht und die eingeschlossenen Personen konnten sich über das Dach retten. Die Vietnames*innen wurden daraufhin in Bussen in eine Notunterkunft gebracht (vgl. ebd.).
Am 25. und 26. August 1992 setzten sich die Ausschreitungen fort und die versammelte Menge ließ ihrer Zerstörungswut freien Lauf. Erst um 2 Uhr nachts des 26. August 1992 hatte die Polizei die Situation unter Kontrolle (vgl. ebd.).
Die bereits vorher geführte Debatte um das Asylgesetz wurde durch das Pogrom nachhaltig dynamisiert und mündete in der Einschränkung des Grundrechts auf Asyl, auf Basis parlamentarischer Mehrheiten, die sich vor den rassistischen Ausschreitungen nicht gebildet hatten.
Die medial umfassend dokumentierten Ereignisse wurden über regionale und bundesweite Grenzen international wahrgenommen und diskutiert.
Ringen um eine Form des Gedenkens
Auf lokaler, bundesweiter und internationaler Ebene löste das größte deutsche Nachkriegspogrom Entsetzen aus, das sich unter anderem an den Folgetagen in Großdemonstrationen unter den Mottos „Zündet Kerzen an und keine Häuser!“ und „Stoppt die Pogrome!“ äußerte und sich nachhaltig auf lokaler Ebene in zivilgesellschaftlichen Vereinen und Initiativen formierte. Es folgten politische Debatten und parlamentarische Untersuchungen mit verhaltenen politischen Konsequenzen und justizielle Verfahren, die mehr als ein Jahrzehnt andauerten (vgl. Guski 2012, S. 31 ff.).
Eine Auseinandersetzung hinsichtlich einer angemessenen Form des Erinnerns war vor allem durch zivilgesellschaftliche Bemühungen geprägt, die sich insbesondere zu runden Jahrestagen zeigte und durch Kontroversität geprägt war.
Zum 20. Jahrestag wurde erneut deutlich, dass ein gemeinsames Vorgehen für die Gestaltung eines Gedenkortes, basierend auf einem von Zivilgesellschaft und politischen Raum in die Breite getragenen Narrativs, schwer zu finden ist.
Die verschiedenen Ansichten zur Ausformung der Erinnerung und die fehlenden Gremien und Diskussionsräume erschwerten die Gestaltung eines Gedenkortes über 20 Jahre.
Basis für ein Gelingen der Ausgestaltung eines Erinnerungsformats im öffentlichen Raum war die Arbeitsgruppe Gedenken, die im Nachgang zum 20. Jahrestag durch die Bürger*innenschaft der Hanse- und Universitätsstadt Rostock initiiert wurde. (vgl. Hanse- und Universitätsstadt Rostock 2020)
Neben Vertreter*innen der Faktionen sind zivilgesellschaftliche Akteur*innen in der Arbeitsgemeinschaft. In diesem Rahmen wurde ein Konzept des dezentralen Erinnerns favorisiert und in Form eines Kunstwettbewerbes ausgelobt.
Zu dem nichtoffenen Kunstwettbewerb mit vorgeschaltetem offenem Bewerbungsverfahren wurden elf Künstler*innen eingeladen. Die Entwürfe wurden von einer Jury bewertet und das Konzept der Künstler*innengruppe „Schaum“ mit dem Titel „Gestern Heute Morgen“ wurde schließlich als dezentrales Denkmal umgesetzt. (vgl. ebd., S.1 ff.)
Seit August 2018 gibt es sechs Stelen, die an verschiedenen Orten in Rostock an das Pogrom erinnern. Die Namen und Orte der Stelen verdeutlichen den Anspruch des Konzepts, das Ereignis aus diversen Perspektiven zu beleuchten.
Medien – am Gebäude der Ostseezeitung
Gesellschaft – am Standort des ehemaligen Jugendalternativzentrums
Politik – am Rathaus
Staatsgewalt – an der Polizeistationam
Selbstjustiz – Sonnenblumenhaus in Lichtenhagen
Empathie – an einem stark frequentierten öffentlichen Platz