Die Erwartungen an die eigene Erwerbsarbeit sind seit einigen Jahren im Wandel begriffen. Der Einklang von Arbeit und Privatleben, gemeinhin bekannt als Work-Life-Balance oder Life-Domain-Balance, stellt eine unbedingte Leistungsanforderung in Frage und lässt das Verdienen von Geld nachrangig erscheinen. So spielt Laut SINUS-Jugendstudie 2020 über alle Befragten hinweg der „Spaß an der Arbeit“ und die „Vereinbarkeit mit dem Privatleben“ bei der Berufswahl eine größere Rolle als das Einkommen (vgl. Calmbach et al. 2020, S. 242 f.). Wird ein genauerer Blick auf einzelne Teilgruppen geworfen, zeigt sich jedoch, dass das nicht für alle Jugendlichen zutrifft: Für junge Menschen mit schwierigeren Startvoraussetzungen (oft auch mit niedrigerer formaler Bildung) ist das Einkommen bei der Berufswahl eines der wichtigsten Kriterien (vgl. ebd., S. 245).
In den Seminaren der Fachgruppe arbeiten wir mit Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft und Schulbildung zu Themen wie allgemeine Zukunftsplanung, Beruf oder Erwerbsarbeit. Auch hier zeigen sich diese Unterschiede deutlich in den eigenen Zukunftsvisionen: Auf der einen Seite liegt ein Fokus auf abwechslungsreicher Beschäftigung mit genug Zeit für Familie, Freund*innen und Freizeit. Auf der anderen Seite äußern viele von ihnen den Wunsch, möglichst viel Geld zu verdienen, um sich etwas leisten zu können, es gut zu haben.
Von wem wird also der Diskurs zur Work-Life-Balance vorangetrieben, wenn die Jugendforschung und die praktische Arbeit mit jungen Menschen in der politischen Jugendbildung klare Unterschiede aufzeigen? Von denjenigen Menschen, die es sich leisten können, einen Fokus auf die Ausgeglichenheit von Arbeit und Freizeit zu legen. Es ist eine Frage der Ressourcen und des (bereits) vorhandenen Kapitals.
Die Fachgruppe „Arbeit und Lebensperspektive“ hat sich im Jahr 2021 daher mit dem Phänomen des Klassismus und seinen Bezügen zur politischen Jugendbildung auseinandergesetzt. Ausführlicher betrachtet wurden verschiedene Intersektionen und Möglichkeiten der methodischen Ausarbeitung. In diesem Bericht wird ein kurzer Überblick zu Klassismus im Allgemeinen gegeben und näher Feminismus, Queerness und Klassismus im Zusammenspiel betrachtet. Am Ende wird beschrieben, welche Bedeutung das für die politische Bildungsarbeit hat und welche Forderungen sich daraus ergeben.
Klassismus – ein kurzer Abriss und aktuelle Probleme
Klassismus soll hier allgemein verstanden werden als „Abwertung, Ausgrenzung und Marginalisierung entlang von Klasse. Klassismus beschreibt die Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft oder Klassenzugehörigkeit.“ (Seeck/Theißl 2021, S. 11; angelehnt an Kemper/Weinbach 2009 sowie Roßhart 2016). An dieser Stelle ist zu betonen, dass der herangezogene Klassenbegriff zwar auch, aber nie ausschließlich auf die ökonomische Stellung einer Person Bezug nimmt. Der Vielfältigkeit in der Auseinandersetzung mit Klassismus wird durch die verschiedenen Kapitalarten, auf die Menschen zurückgreifen können, deutlich: Neben dem ökonomischen Kapital (z. B. Eigentum, Geld) werden auch kulturelles Kapital (z. B. Bildungsabschlüsse, das Spielen eines Musikinstruments), soziales Kapital (z. B. „Vitamin B“, das eigene oder geerbte soziale Netzwerk) sowie symbolisches Kapital (z. B. die Wohnadresse, ein Dr*in-Titel) betrachtet (vgl. Seeck/Theißl 2020; Kemper/Weinbach 2009, S. 122; zurückgehend auf Bourdieu 1982).
Lange Zeit wurde Klassismus nur sehr theoretisch betrachtet (oft mit Bezug zu Karl Marx, Max Weber oder Pierre Bourdieu). Auch heute noch gibt es derlei Strömungen (etwa mit Bezug zu Didier Eribon). Gemein haben diese Perspektiven, dass sie cis-männlich und weiß dominiert sind, sich an akademischen Ausdrucksweisen orientieren und oft in theoretischen Sphären verbleiben (vgl. Kemper/Weinbach 2009, S. 14 f.). In einer aktuellen Auseinandersetzung mit Klassismus stellen Seeck/Theißl (2020) die Notwendigkeit der theoretischen Rahmung nicht in Frage, kritisieren aber den häufig fehlenden „Link zur politischen Praxis“ (ebd., S. 10). Ohne eine praktische und bewusste Umsetzung von antiklassistischen Strategien in der Gesellschaft verändern alle theoretischen Überlegungen nichts an der (noch immer bestehenden) Diskriminierung aufgrund von Klassenherkunft und Klassenzugehörigkeit.
Die Betrachtung eines anderen historischen Strangs in der Auseinandersetzung mit Klassismus, nämlich den feministischen Ansätzen in den USA (vgl. Hooks 2008) oder der Frauen-Lesben-Bewegung in Deutschland (vgl. Roßhart 2016), bringt konkretere Möglichkeiten zum praktischen Umgang mit Klassismus zu Tage. Dies lässt sich zudem mit den in der Fachgruppe vertretenen feministischen und queerfeministischen Ansätzen verbinden.
Klassistischer Feminismus? Oder Klasse und Geschlecht
Da in der Fachgruppe vielfach feministische Grundsätze der Planung und Methodik der Bildungsveranstaltungen zugrunde liegen, ist auch der Frage nachzugehen, wie und wann Feminismus möglicherweise auch klassistisch und damit Teil des Problems ist.
Feminismus bzw. die verschiedenen Frauenbewegungen haben ihren Ursprung in der Ungleichbehandlung der Geschlechter, der Unterdrückung eines Geschlechts durch das andere. Der Feminismus fußt auf der Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen und der Existenz zweier Kategorien: Mann und Frau. Dies kennzeichnet eine Geschlechterhierarchie, die noch immer je nach Gesellschaftsbereich und der Anerkennung der Problematik vorhanden ist. Ein Aufbrechen dieser Hierarchien ist besonders wichtig für diejenigen, die Gesellschaftsverhältnisse positiv, menschlich und gleichberechtigt gestalten wollen.
Ein weiterer Aspekt des Frauen betreffenden Klassismus ist die ökonomische Benachteiligung. Frauen sind davon überproportional betroffen. In der Strömung des materiellen Feminismus wird Klassismus zwar nicht benannt, aber es geht hier vor allem um die Beschreibung von Gender als soziales Konstrukt, um aufgezwungene Geschlechterrollen und Kapitalismus und um Patriarchatskritik. Feministinnen aus Frankreich und Großbritannien prägten den materiellen Feminismus. Er beinhaltet keine idealisierte Vorstellung von Frauen und fragt danach, wer Zugang zu Geld und Bildung hat, fragt nach sozialen und nach wirtschaftlichen Zwängen. (Wer kann eigentlich Karriere machen?) Der materielle Feminismus will soziale und wirtschaftliche Gleichbehandlung aller Geschlechter.
Klassenunterschiede und die damit einhergehenden Grenzen waren und sind der natürliche Kritikpunkt des Feminismus und damit eine wichtige emanzipatorische Gesellschaftskritik. Auch die Bekämpfung von Sexismus erfordert das Mitdenken von Klassismus und Rassismus bzw. überhaupt gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, da die Herrschafts- und Machtverhältnisse ineinander verwoben sind. Ist Feminismus deswegen klassenlos?
Feminismus hat auch eine öffentliche, akademisierte Seite: theoretische Diskurse von Akademiker*innen, die den Gegenstand wissenschaftlich beschreiben und zur Weiterentwicklung beitragen, aber eben auch nicht alle Aspekte mit einbeziehen. Die Deutungshoheit kann nicht bei der akademischen Klasse liegen. So scheiterten die Versuche, als Akademikerinnen in Deutschland in den Betrieben Arbeiterinnen für Feminismus agitieren wollten. Es gab dafür andere Interventionen wie die der sogenannten Prolllesben, die sich bewusst und solidarisierend in Spargruppen zusammenfanden, um gemeinsam ökonomische Not zu mildern (vgl. Roßhart 2016). Diese Klassenunterschiede zeigten sich auch beim gegenseitigen Unverständnis von Frauenrechtlerinnen aus Ost- und Westdeutschland nach 1989. Ihr Verhältnis war sehr ambivalent und sie waren sich oft fremd. Es gab ein „von-oben-herab“ gegenüber den Frauen aus Ostdeutschland, als müssten diese den „richtigen“ Feminismus noch lernen.
Feminismus versteht sich als gesamtgesellschaftlich gewinnbringend und stellt ohne Klassenunterschiede die Gleichberechtigung der Menschen in den Mittelpunkt. Die aufgezeigten Aspekte zeigen deutlich, dass die Gefahr besteht, dass Klassismus seine diskriminierende Wirkung auch hier entfaltet. In der Fachgruppe möchten wir mit dem theoretisch Erarbeiteten und den teilweise ganz realen persönlichen Erfahrungen Jugendbildungsarbeit klassismussensibel gestalten, wenn nicht gar einen Beitrag dazu leisten, ihn zu überwinden.
Klassismus und queere Identität
Obwohl die praktische Auseinandersetzung mit Klassismus und die Kritik an einem Mittelklasse-Fokus aktivistischer Tätigkeiten bereits in der oben erwähnten FrauenLesben-Bewegung der 80er und 90er Jahren zu finden sind, wird in queeren Räumen auch heute noch (zu) selten über Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft und Klasse gesprochen (vgl. Abou et al. 2020).
Dabei sehen sich queere Menschen im Vergleich zur endo-cisgeschlechtlichen und heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft in Bezug auf Klassismus zum Teil spezifischen Herausforderungen gegenüber: Bereits vergleichsweise gut erforscht sind die systematische Benachteiligung von trans* und inter* Personen auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Frohn/Meinhold 2020; Frohn et al. 2020), die schlechtere Bezahlung von homosexuellen Menschen im Vergleich zu heterosexuellen Menschen (vgl. Kroh et al. 2017) und Diskriminierungserfahrungen in Bildungseinrichtungen (vgl. Krell/Oldemeier 2017). All diese Benachteiligungen können dazu führen, dass queere Menschen weniger Geld verdienen und Bildungseinbußen erfahren – in anderen Worten: auf weniger ökonomisches und kulturelles Kapital zurückgreifen können. Durch ein zurückgezogenes Leben aufgrund der Erwartung von Diskriminierung oder den Bruch mit der Herkunftsfamilie kann zudem das soziale Netzwerk (soziales Kapital) leiden. Gerade für Jugendliche und junge Erwachsene kann Klassismus in ihrer (queeren) Identitätsentwicklung ein Einflussfaktor sein.
Mit Blick auf die politische Jugendbildung mit queeren Jugendlichen und jungen Erwachsenen zeigt sich Klassismus in einer inhaltlichen und in einer strukturellen Ebene. Die inhaltliche Ebene betrifft die Themen, mit denen sich im Rahmen von Seminaren auseinandergesetzt oder eben nicht auseinandergesetzt wird. Bei queeren Jugendlichen, die selbst Diskriminierungserfahrungen machen oder gemacht haben, ist oft ein grundlegendes Bewusstsein für Diversität und gesellschaftliche Diskriminierungsmechanismen vorhanden. Intersektionale Ansätze werden von Teilnehmenden im Rahmen der Veranstaltungen selbstständig thematisiert und eingefordert. Dabei wird jedoch oft der Bezug zu der Intersektion Queerfeindlichkeit und Rassismus oder Queerfeindlichkeit und Ableismus hergestellt. Klassismus als Ursprung von Diskriminierung und Ausgrenzung wird kaum thematisiert – und auch die Sensibilität in Bezug auf Klassismus scheint nicht besonders ausgeprägt.