“Demokratie
braucht
politische Bildung”

Die neue Europäische Agenda für Erwachsenenbildung 2021–2030

New European Agenda for Adult Learning 2021–2030 (NEAAL)
Foto: AdB
21.12. 2021

Wichtige Orientierungspunkte für die Erwachsenenbildung aus Sicht des AdB

Die neue Europäische Agenda für Erwachsenenbildung – New European Agenda for Adult Learning 2021–2030 (NEAAL) – wurde am  29. November 2021 vom Rat der Europäischen Union verabschiedet. Sie enthält viele wichtige Orientierungspunkte für die Erwachsenenbildung. Der Referent für internationale politische Bildung im AdB, Georg Pirker, hat aus Sicht der politischen Erwachsenenbildung des AdB eine zusammenfassende Einschätzung vorgenommen.

 

Mit diesem Ratsbeschluss gibt es für die Erwachsenenbildung wieder einen (lange erwarteten) politischen Rahmen, der europaweit Orientierungspunkte für Erwachsenenbildung liefert. Die Erwachsenenbildung hatte nicht nur auf der europäischen Ebene in den letzten Jahren einen zum Teil unglücklichen Stand: Formal zuständig ist die Generaldirektion Beschäftigung, programmatisch angelagert sind viele Aktivitäten in Erasmus+, und ähnlich wie in Deutschland besteht ein spürbares Spannungsfeld zwischen beruflicher Weiterbildung und allgemeiner Erwachsenenbildung. Die Diskurse drehen sich um Begriffe wie allgemeine Bildung, politische Bildung, Weiterbildung, learning for wellbeing, folkbidning, community learning, educacion popular … um nur einige zu nennen.

 

In der europäischen Bildungslandschaft kommt hinzu, dass Erwachsenenbildung eine Angelegenheit sehr unterschiedlicher institutioneller Strukturen ist. Sie umfassen Organisationen klassischer beruflicher Weiterbildung, Hochschulen, Zentren Lebenslangen Lernens, Community Learning Centres, Volks- und Heimvolkshochschulen, Bildungsstätten und vielfach auch Initiativen Lebenslangen Lernens oder Abendschulen.

 

Für den deutschen Kontext vielleicht die wirkmächtigste Unterscheidung ist die in berufliche und allgemeine Weiterbildung, entlang derer sich viele pädagogische Herausforderungen und Konfliktlinien bewegen: berufliche Verwertbarkeit vs. Persönlichkeitsbildung, Beruf vs. Ehrenamt, Anerkennung etc.

 

Nun ist die neue Agenda nicht wirklich neu, sie fußt auf vielfältigen Prozessen und Initiativen, deren prominenteste vielleicht die Ratsempfehlung zu Upskilling Pathways (2016), zur Validierung non-formalen und informellen Lernens (2012) und die (damals) erneuerte Agenda für Erwachsenenbildung (2011) sind – einige davon sind schon etwas in die Jahre gekommen.

 

Die neue Agenda sieht in gelingender Erwachsenenbildung den Schlüssel, die aktuellen Transformationen (Klima, Digitalisierung) und ihre gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Folgen/Begleiterscheinungen anzugehen. „Adult learning, as an important part of lifelong learning, can contribute to making economies and societies stronger and more resilient”, so heißt es im Vorwort. Die NEAAL misst allgemeiner, insbesondere politischer Erwachsenenbildung, eine wichtige Rolle zu, steht sie doch in einem unmittelbaren Bezug zur europäischen Säule sozialer Rechte und soll zu dessen Verwirklichung einen maßgeblichen Beitrag leisten. So sieht die Zielformulierung des European Pillar of Social Rights Action Plan mindestens 60 % der Erwachsenen als Teilnehmende von Lernprozessen vor. Bis dahin ist es freilich ein recht langer Weg, so zeigen die aktuellen Zahlen des Education and Training Monitor in der EU eine Teilnehmenden-Rate von 10,8 % (2019), eine Zahl, die sich durch Covid 19 auf aktuell 9,2 % verringert hat (Eurostat 2020). Ein besonderes Augenmerk muss dabei der Ansprache und Gewinnung wenig erreichter Personen bzw. von Menschen mit Zugangshindernissen und vulnerablen Gruppen gelten.

 

Die Agenda erkennt an, dass der Großteil der Erwachsenenbildungs-Aktivitäten in der EU non-formalen Charakter hat. Dies scheint ein wichtiger Punkt, da für die Erreichung des ambitionierten 60 %-Ziels die Frage zu beantworten sein wird, mit welchen Strukturen diese 60 % bewerkstelligt werden können. Einer der Wege, die zu beschreiten sind, sieht die Agenda selbst vor: „The fragmentation of adult learning between sectors, policy areas and legal framework needs to be adressed. There is a need for dialogue between all parties to ensure that there is a shared vision for strengthened adult learning provision, where the social dimension of adult learning, as well as employability, are considered.” (NEAAL, p. 7)

 

Die Anerkennung allgemeiner und politischer Erwachsenenbildung ist nach Jahren des strikt auf VET und employability fokussierten Diskurses erfreulich: „(…) Adult learning needs to go beyond the development of work related skills. It is also important to foster greater awareness among the general population about the importance and benefits of participation in lifelong learning. Adult Learning should be interlinked with all types and levels of education and training, including higher education through flexible formal, non-formal and informal pathways (…) In addition, adult learning can contribute to active citizenship and community learning. (…) Adult learning plays a crucial part in responding to current and future challenges and opportunities in life and work, leading to sustainable communities.” (NEAAL, p. 20 f.)

 

Die Hervorhebung des sozialen und gesellschaftlichen Aspektes der Erwachsenenbildung, ihr Voranstellen gegenüber auch beruflicher Verwertbarkeit im Dokument ist auffallend und stellt eine Abkehr bisheriger Schwerpunktsetzungen zumindest in Aussicht. Auch die wiederholte Betonung der Notwendigkeit sektorübergreifender Anerkennung und Kooperation ist eine Neuerung. Sie erkennt zugleich die Tatsache einer fragmentierten Erwachsenenbildungslandschaft in Europa an und beschreibt einen klaren Aufgabenkatalog für politisches Handeln im Kontext europäischer und nationaler Bildungspolitik: Anerkennung ernstnehmen, Barrieren umfassend reduzieren, Akteursvielfalt anerkennen und politische Fragmentierung überwinden.

 

Aktivitäten auf fünf Ebenen flankieren die Agenda, sie umfassen die Bereiche

 

  • governance, mit einem starken Fokus auf OMC – open method of coordination, monitoring und evidence based adult learning policies;
  • Supply and take-up of lifelong learning opportunities – für politische Erwachsenenbildung ist hierbei insbesondere der Aspekt des tailor-made learning interessant;
  • Accessibility and flexibility – Erwachsenenbildung soll zugänglich und flexible gestaltbar sein, hierbei wird die Rolle non-formalen Lernens besonders betont;
  • Quality, equity, inclusion and success in adult learning – große Bedeutung kommt dabei der Einbindung vulnerabler Gruppen in unseren Gesellschaften zu, deren Bedarfe, Anliegen und Interessen aufzunehmen. Inklusion hat eine Schlüsselrolle bei der Realisierung demokratischer Bürgerschaft und der EU-Grundrechte;
  • The green and digital transition

 

Die Notwendigkeit verlässlicher und dauerhafter Finanzierung anstatt vorherrschender Projekt- und Programmlogiken wird betont. Die nationalen ministeriellen Ebenen sind aufgefordert, die Ratsempfehlung zur Validierung non-formalen und informellen Lernens (2012) umzusetzen. Hierbei besteht in Deutschland bekannter Weise Stau. Zudem sollen weitere Anstrengungen unternommen werden, das Berufsbild und den Berufsstand der Erwachsenenbildner*innen anzuerkennen und deren Professionalisierung zu unterstützen.

 

Digitalisierung sowohl der Bildungsprozesse als auch der Organisationsstrukturen sowie der Möglichkeiten der Lernenden und Lehrenden, Digitalisierung zu nutzen (bspw. Micro-credentialling), stellt eine zentrale Herausforderung dar. Der Gefahr, dass Digitalisierung bestehende Ungleichheit und insbesondere den Gender Gap fortschreibt, muss durch verstärkte Anstrengungen entgegengewirkt werden. Dabei spielt die Integration von Fragen der Nachhaltigkeit und des Sustainable Development eine zentrale Rolle, die in der Erwachsenenbildung stärker fokussiert werden sollte.

 

Für die Notwendigkeit, Lernumgebungen dementsprechend digital und der Nachhaltigkeit verpflichtet aus- und neu zu gestalten, werden in der NEAAL zusätzliche Unterstützungsmaßnahmen als nötig erachtet: „Such environments should enhance equal access to digital material for adult learners of all ages and should support the safe use of digital technologies. Learning platforms for the public good should be designed in such a way as to offer motivational support, professional mentoring, guidance and counselling to participants.” (p. 23)

 

Lernende sollen insbesondere durch Mobilitätsprogramme, aber auch durch Kohäsionsfunds unterstützt werden. Lehrende und weitere Menschen, die in den Strukturen von Erwachsenenbildung tätig sind, sollen im Fokus europäischer Mobilitätsprogramme stehen, vice versa sind Mobilitätshindernisse zu identifizieren und zu beseitigen.

 

Ambitionierte Ziele?

 

Viele der Forderungen, gerade zur Digitalisierung, sind im deutschen Kontext auch im Digitalpakt angedacht. Zur Umsetzung und Ausgestaltung müssen sich gerade die Strukturen und Träger der Erwachsenenbildung verstärkt auf den Weg machen, nicht nur in pädagogischer Hinsicht, sondern auch unter dem Aspekt der Organisationsentwicklung. Im Bereich der Realisierung der SDG‘s und einer grünen Transition gilt es gerade für politische Erwachsenenbildung Wege zu finden, vorhandene Praxis aufzugreifen und zu skalieren. Die NEAAL bietet hier eine willkommene und gute Möglichkeit mit Politik ins Gespräch zu kommen. Von herausragender Bedeutung, aber zugleich in der Realisierung am unklarsten, erscheint die Verknüpfung des European Pillars of Social Rights mit den Strukturen der Erwachsenenbildung – die Baustellen sind jedenfalls benannt.