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Jugendarbeit nach Corona

Jugendpolitische Fachveranstaltung des Haus der Jugendarbeit und Jugendhilfe e. V.
Foto: HdJ
29.10. 2021

Haus der Jugendarbeit und Jugendhilfe e. V. lädt zur jugendpolitischen Fachveranstaltung

Der Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten e. V. ist eine der vier zentralen Organisationen im Haus der Jugendarbeit und Jugendhilfe e. V. (HdJ). Das HdJ hat am 26. Oktober 2021 zu seiner jährlichen jugendpolitischen Fachveranstaltung eingeladen. Mehr als 200 Interessent*innen hatten sich angemeldet. Dies zeigt, dass mit der Veranstaltung ein aktuelles und brennendes Thema aufgegriffen wurde, das sehr viele Akteure im Feld der Jugendarbeit bewegt: Wie geht es weiter mit der Kinder- und Jugendarbeit nach Corona?

 

Die Pandemie hat die Verbände, Träger und Akteure der Kinder- und Jugendarbeit stark herausgefordert. Ihre Arbeit lebt vom Miteinander, von gemeinsamen Aktivitäten und Erlebnissen – und genau dies war unter Pandemie-Bedingungen nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. Ziel der Veranstaltung war es daher, die Erfahrungen in und aus der Pandemie zu reflektieren und zu diskutieren, wie die Jugendhilfe und Jugendarbeit vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen weiterentwickelt und gestärkt werden kann.

 

Der HdJ-Vorsitzende Mike Corsa begrüßte die Teilnehmenden mit einer ersten Einordnung. Er machte deutlich, dass die Unterstützung junger Menschen in ihrer Entwicklung hin zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit sowie die Sicherung und Unterstützung von Lebens- und Gestaltungorten außerhalb von Familie und Schule zentrale Anliegen aller Organisationen im HdJ sind. Die Organisationen bringen unterschiedliche Perspektiven ein, die die Vielfalt der Kinder- und Jugendarbeit spiegeln. Sie findet an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Formaten statt und hat, so der HdJ-Vorsitzende, seit ihrem Bestehen eine eigene Logik und eine spezifische Bedeutung für Kinder und Jugendliche. Sie entwickelt sich durch das Interesse von Kindern und Jugendlichen weiter, ist freiwillig und selbsttätig mit Unterstützung von Ehrenamtlichen und Fachkräften.

 

Die pandemiebedingten Einschränkungen haben den Bedarf an gelebter Kinder- und Jugendarbeit noch einmal besonders sichtbar gemacht. Die vielen digitalen Angebote reichen nicht aus, wenn sich Jugendliche auf dem Laufsteg der Gleichaltrigen bewegen, sich messen, um Haltungen ringen, selbsttätig im Kreis der Gleichaltrigen Lebensstile erproben, aber auch einen konstruktiven Umgang mit Niederlagen finden wollen. Die mit der Pandemie begründeten Einschränkungen – insbesondere in Zeiten der Lockdowns – hatten gravierende Folgen für Kinder und Jugendliche: Lebensräume und direkte Kontakte zu Gleichaltrigen und außerfamiliären Begleiter*innen wurden eingeschränkt. Sichtweisen und Bedarfe von Kindern und Jugendlichen spielten an den Tischen der Corona-Krisenstäbe keine Rolle, eine Jugendstrategie war nicht zu erkennen. Kinder und Jugendliche – als Gefährdungspotenzial für vulnerable Gruppen stigmatisiert – wurden nur unter bildungspolitischen Aspekten in den Blick gekommen: Wie können trotz der Einschränkungen die Lehrpläne umgesetzt und die schulischen Bildungsziele erreicht werden? Kinder- und Jugendarbeit hatte folglich keine Bedeutung für die politischen Entscheidungsträger und die Pandemiexpert*innen.

 

Bei aller Einschränkung habe sich aber die Kreativität der Kinder- und Jugendarbeit in Pandemiezeiten einmal mehr bewährt, so Mike Corsa, natürlich auch dank der Unterstützung der öffentlichen Träger durch Sonder- und Aktionsprogramme. Es sei der Kinder- und Jugendarbeit gelungen, mit digitalen Formaten und aufsuchenden Maßnahmen Kontakte zu jungen Menschen herzustellen und zu halten – auch wenn hierzu noch nicht ausreichend empirische Studien vorliegen.

 

Mit seinem Impulsvortrag „Long-Covid?! – Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Jugendliche und die Jugendarbeit“, benannte Dr. Jens Pothmann, Leiter der Abteilung Jugend und Jugendhilfe des Deutschen Jugendinstituts (DJI), zum einen die vielfältigen Belastungen, denen Kinder und Jugendliche durch Corona ausgesetzt waren, wie z. B. die Einschränkung sozialer Kontakte und der Mobilität, die Verschlechterung der Lebensqualität, der Wegfall von Beteiligungsmöglichkeiten sowie gesundheitliche Schädigungen und psychische Belastungen. Zum anderen umriss er die Folgen der pandemischen Lage für die Kinder- und Jugendarbeit: Corona hat dieses Arbeitsfeld seit Anfang 2020 stark dominiert. Die Abhängigkeit vom Pandemiegeschehen wurde u. a. mit (Teil-)Schließungen und Reduzierung der Angebote deutlich. Auch wenn viele flexibel und kreativ reagierten, hat sich der Druck auf die Beschäftigten sehr erhöht.

 

Corona werde weiterhin Thema bleiben und die finanziellen Entwicklungen seien ungewiss, so der Referent in seinem Fazit. Angesichts aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen müsse es eine Analyse zusätzlicher Bedarfslagen für die Kinder- und Jugendarbeit geben sowie eine Bedeutungszunahme und Anerkennung der Arbeit.

 

In vier Sessions, die die Organisationen im HdJ verantworteten, wurden zentrale Fragen und Herausforderungen aufgegriffen, die die Vielfalt der Kinder- und Jugendarbeit und die unterschiedlichen Perspektiven deutlich machten:

 

In der Session des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten mit dem Titel „Politische Bildung online: all inclusive? Einblicke in eine aktuelle Studie und Erfahrungen aus der Jugendbildung und Jugendarbeit in 2020/2021“ stellte zunächst Dr. Friedrun Erben, AdB, ausgewählte Hypothesen und Schlussfolgerungen der Studie „Politische Bildung online: all inclusive? Ein- und Ausschlüsse in digitalen Formaten der außerschulischen politischen Bildung – eine Studie aus machtkritischer und intersektionaler Perspektive“ vor, die Dr. Anna Maria Krämer für den AdB erstellt hat. Die Hypothesen und Schlussfolgerungen wurden durch Nils-Eyk Zimmermann mit Erfahrungen aus dem Projekt „DIGIT AL – Digital Transformation and Adult Learning for Active Citizenship” gespiegelt. Es wurde diskutiert, welche Konsequenzen die Digitalisierung für eine inklusive Bildungsarbeit hat und wie sich bisherige Gestaltungsprinzipien in digitalen Räumen verändern. Hierbei geht es nicht nur um technische Fragen und die Auswahl geeigneter Tools, sondern ebenso um Fragen der Konzeption, der Kommunikation und der Haltung. Inklusion wird als Prozess verstanden, der die Bedürfnisse aller berücksichtigt. Daher muss reflektiert werden, wie Ausschlüsse verhindert werden können und eine umfängliche Teilhabe aller möglich wird.

 

In der Session der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ zum Thema „Die Offene Kinder- und Jugendarbeit in und nach der Pandemie“ führte Moritz Schwerthelm, Universität Hamburg, mit einem Input in das Thema ein und machte gleich zu Beginn deutlich, dass man noch nicht von einem „Nach Corona“ sprechen kann. Da es bisher kaum empirische Studien gibt, sind auch die Auswirkungen der Pandemie auf die Offene Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) noch nicht abschließend zu benennen. Aber man könne, so der Referent, eine Aufgaben- und Funktionsverschiebung beobachten. Daher sei es zentral zu analysieren, wie die OKJA unter neuen Bedingungen ihren Auftrag erfüllen könne: Selbstbildung ermöglichen, Partizipation unterstützen, Demokratiebildung eröffnen, Jugendpolitik betreiben. Die Pandemie habe aber wichtige Rahmenbedingungen eingeschränkt, z. B. Zugangsbarrieren entstehen lassen, Offenheit der Angebote und Teilhabemöglichkeiten reduziert. Große Herausforderungen waren die Bereitstellung digitaler Angebote und das Adaptieren von Basics für die aktuelle Situation, das Erkennen und Aufgreifen der Interessen und Themen junger Menschen sowie das Gestalten von Übergänge in Sozialräume und kommunale Jugendpolitik.

 

In der Session „Schutz vor sexualisierter Gewalt – vor, während und nach der Pandemie“ der Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (BAJ) stellte Heike Völger, Leiterin des Referats Prävention und Forschung beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs u. a. die Empfehlungen des Nationalen Rates gegen sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen zu Schutzkonzepten sowie Initiativen des UBSKM vor. Ursula Enders, Mitbegründerin und Leiterin von Zartbitter Köln, der Kontaktstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen, gab einen Einblick in neue digitale Fortbildungsformate, die vor dem Hintergrund, dass Kontaktmöglichkeiten und Hilfsangebote digital längst nicht ausreichend zur Verfügung standen und stehen entwickelt wurden.

 

Die Session „Gesellschaftliche Brüche überwinden“ des Deutschen Bundesjugendrings (DBJR) wurde mit einem Input von Dr. Alena Buyx, Professorin für Ethik der Medizin und Gesundheitstechnologien an der Technischen Universität München, eingeleitet. Eine engagierte Jugend, die Gesellschaft für sich und andere positiv gestalten will, erlebte in der Pandemie, wie Solidarität und Gerechtigkeit in Frage gestellt wurden. Die Auswirkungen auf die mentale Gesundheit Jugendlicher und die Folgen für den „Gesundheitszustand“ einer demokratischen Gesellschaft bleiben sichtbar. Die engagierte Jugend sieht sich weiter als Teil einer starken demokratischen Zivilgesellschaft. In der Session wurde diskutiert, wie Jugend ihren Wunsch nach Solidarität, nach Gerechtigkeit und Freiheit erfüllen kann und was sie dazu braucht – auch über nationale Grenzen hinweg.

 

Moderiert von Maja Wegener, Geschäftsführerin Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (BAJ), kamen Vorstandsmitglieder der im HdJ vertretenden Verbände zu einem Spitzengespräch zusammen, um die jugendpolitische Erwartungen an die zukünftige Bundesregierung zu formulieren. Martina Reinhardt, stellvertretende Vorsitzende der AGJ, Boris Brokmeier, Vorsitzender des AdB, Wendelin Haag, Vorsitzender des DBJR, sowie Klaus Hintze, Vorsitzender der BAJ, brachten vor dem Hintergrund der Impulse und Diskussionen in den Sessions folgende Forderungen ein:

 

  • Digitalpakt für die Kinder- und Jugendhilfe
  • Stabilisierung und Ausbau der Infrastruktur der Kinder- und Jugendarbeit
  • Kinderrechte ins Grundgesetz
  • Kontinuierliche Strukturen und Fortbildungen angesichts zunehmender Digitalisierung
  • Schulung und Stärkung von Fachkräften
  • Ausbau der förderpolitischen Instrumente
  • Dynamisierung der KJP-Mittel
  • Etablierung eines Nationalen Kompetenzzentrums
  • Jugendliche immer mitdenken
  • Krisenfeste Jugendbeteiligung etablieren
  • Absenkung des Wahlalters
  • Umfassende Grundsicherung

 

Ina Bielenberg, HdJ-Geschäftsführerin, formulierte zum Abschluss der Veranstaltung, was wohl allen unter den Nägeln brennt: Die Veranstaltung hat gezeigt, wie einschneidend die Pandemie für alle war. Sie hat Kinder, Jugendliche, Familien, aber auch die Träger, Verbände, die Strukturen und das Personal getroffen. Die Auswirkungen werden noch lange zu spüren sein. Alle haben Verantwortung übernommen, haben mit Flexibilität, Kreativität, Neugier und Vernetzung reagiert. Aber deutlich ist, dass die Bewältigung der Krise ist nicht allein zu schaffen ist. Wir brauchen jugendpolitischen Rückhalt und jugendpolitische Anerkennung – sowohl die Kinder und Jugendlichen als auch die Akteure der Kinder- und Jugendarbeit. Dafür ist eine wirksame Lobbyarbeit essentiell – auf Bundes- und Länderebene und in den Kommunen.

 

Das Haus der Jugendarbeit und Jugendhilfe e. V. (HdJ) ist seit 20 Jahren der zentrale Standort und die Heimat für wichtige bundeszentrale Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe. Hierzu gehören:

 

  • Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ
  • Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB)
  • Bundesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (BAJ)
  • Deutsche Bundesjugendring (DBJR)

 

Die Spitzenverbände sind wichtige Ansprechpartner des BMFSFJ, der Bundesregierung, für den Deutschen Bundestag und ein starker Ausdruck einer vielfältigen und lebendigen Zivilgesellschaft.