“Demokratie
braucht
politische Bildung”

Transformationen. Globale Entwicklungen und die Neuvermessung der politischen Bildung

Professor Dr. Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung bei seinem Vortrag
Foto: AdB
10.12. 2019

AdB-Jubiläumskongress zum Jahresthema 2020

Am 26. und 27. November 2019 fand in der Akademie für politische Bildung in Tutzing die diesjährige Fachtagung des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten e. V. (AdB) zum Thema „Transformationen. Globale Entwicklungen und die Neuvermessung der politischen Bildung“ statt. Diese Tagung, die in Kooperation mit der Akademie für Politische Bildung durchgeführt wurde, war ein Höhepunkt des 60jährigen Jubiläumsjahrs und gleichzeitig Auftakt für die Aktivitäten zum AdB-Jahresthema 2020.

 

Ulrich Ballhausen eröffnete als amtierender AdB-Vorsitzender den Jubiläumskongress. Er begrüßte die 70 Teilnehmenden, die der Einladung trotz des abstrakten, sehr ambitionierten Themas gefolgt waren. Er hob hervor, wie wichtig es sei, dass sich die politische Bildung in der Weltgesellschaft verorte und sich mit diesem großen Thema beschäftige. Politische Bildung müsse angesichts der globalen Entwicklungen neue Kooperationen eingehen, selbstbewusst und selbstbestimmt agieren und sich gegen Angriffe zu Wehr setzen. Politische Bildung müsse politischer werden und sich als politischer Akteur verstehen.

 

Ebenso begrüßte Frau Professorin Dr. Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung, die Anwesenden. Sie erinnerte an den Gründungsort des AdB, an den er nun zu diesem Jubiläumskongress zurückgekehrt ist. Die Akademie verstehe sich als Ort des übergreifenden Austauschs und erfülle damit das, was Ulrich Ballhausen in seiner Begrüßung für die politische Bildung einforderte.

 

Mit dem ersten Vortrag zum Thema „Transformationen. Die neue Zerbrechlichkeit der Demokratie“, gab Professor Dr. Wolfgang Merkel vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung einen fundierten Einblick in die jüngere weltweite Entwicklung der Demokratie aus vergleichender Perspektive. Deutlich wurde, dass die Qualität der Demokratien heute zwar signifikant höher ist als in den 50er bis 70er Jahren, diese aber verwundbarer und fragiler geworden sind. Gründe dafür sind z. B. die Globalisierung der Märkte und die Individualisierung der Gesellschaft, die unerfüllten Versprechen der Demokratie und der Rückgang des Vertrauens in die politischen Eliten. Auch der Vertrauensverlust in die zentralen Institutionen der repräsentativen Demokratie (Parteien, Parlamente, Regierungen), der unaufhaltsame Abstieg der Volksparteien und die Fragmentierung und Polarisierung des Parteiensystems sind zu nennen. Sozioökonomische Ungleichheit führt zu politischer Ungleichheit, d. h. die Wahlbeteiligung nimmt ab und die soziale Selektivität nimmt zu – auch durch neuere (digitale) Partizipationsformen, die fast nur von den Mittelschichten wahrgenommen werden. Eine unmittelbare Gefahr für die Demokratie bestehe darin, so der Referent, dass das untere Drittel der Gesellschaft aus der politischen Partizipation ausgestiegen sei. Werden Demokratien durch eine populistische Regierung in Gefahr gebracht, bedeute das aber nicht, dass auch die Demokratiezufriedenheit der Bevölkerung sinke.

 

Herausforderungen, die durch Transformationen sichtbar werden, sind z. B. die zunehmende Heterogenität, soziale Ungleichheit, Europäische Integration, der Klimawandel sowie die Entparlamentarisierung. Insbesondere die Klimakrise und die globale Erderwärmung müssen als Zukunftsprobleme benannt werden, die angesichts der Schwäche der Demokratien bei Zukunftsentscheidungen nicht kleiner werden. Hier ist das Zusammenspiel der Länder von herausragender Bedeutung.

 

Die Aufgabe der politischen Bildung, so der Referent, liege in einer zerbrechlicher werdenden Demokratie darin, alle Menschen in die Diskurse einzubeziehen, die Komplexität großer Themen zu reduzieren und gemeinsam ganz konkrete, realistische Schritte zu entwickeln.

 

Die Gesprächsrunde zum Thema „Transformationen – ein globales Megathema“ mit Eva Feldmann-Wojtachnia, Centrum für angewandte Politikforschung, Matylda Bobnis, Fridays for Future-Aktivistin und Professorin Dr. Ursula Münch, Akademie für Politische Bildung, griff diese Gedanken auf und versuchte – begleitet von der Moderation durch Ferdos Forudastan, Süddeutsche Zeitung – den Begriff der Transformation noch einmal besser zu fassen: Was bedeutet Transformation? Ist das ein hilfreicher Begriff? Transformation steht als unbestimmter Begriff für „unbestimmte“ Phänomene, für politische und technische Entwicklungen, die zum Teil parallel und nicht linear verlaufen und existenzielle Einschnitte – sowohl positiv als auch negativ – nach sich ziehen können.

 

Auch in dieser Runde wurde deutlich, dass die Akteure politischer Bildung gefragt sind, dass sie Wissen erwerben und Netzwerke bilden müssen, um der Komplexität der Herausforderungen Herr werden zu können. Ein gutes Beispiel dafür, wie das gelingen kann, ist die Fridays for future-Bewegung, in der sich vor allem junge Menschen, aber auch Vertreter*innen der älteren Generationen zusammengeschlossen haben und durch ihr Engagement die Klimakrise sowohl in der politischen Agenda als auch in den Diskursen viel weiter nach vorn gerückt haben. Das von Professor Merkel geforderte Konkret-Werden haben die Fridays for future-Aktivist*innen in ihrem 32 Punkte umfassenden Forderungskatalog umgesetzt.

 

Der zweite Tag des Fachkongresses stand ganz unter der Frage, welche Rolle der politischen Bildung in diesem Prozess zukommt: Wie muss sich die politische Bildung aufstellen, um den Herausforderungen gerecht zu werden und auf globale Entwicklungen zu reagieren? Können wir so weitermachen, wie bisher? Wie soll politische Bildung und sollen unsere Bildungsorte in Zukunft aussehen?

 

Eingeführt wurde dieser Tag durch einen Vortrag von Professorin Ursula Münch zum Thema „Wenn sich alles verändert: Die Zukunft der politischen Bildung in Zeiten der Transformationen“. Vor dem Hintergrund der Verunsicherung über die Leistungsfähigkeit der Demokratie angesichts der Transformationen und den Kennzeichen autoritärer Regime im Unterschied zu „offenen Gesellschaften“ explizierte sie Folge-Herausforderungen für die politische Bildung: eine zunehmende Spezialisierung, die Komplexität politischer Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse, Schnelligkeit der Transformationen vs. Langsamkeit von Prozessen in rechtsstaatlicher Demokratie, Gesetzmäßigkeiten digitaler Kommunikation, eine weitere Entparlamentarisierung, ein Bedeutungszuwachs von externen Beratern und eine dadurch entstehende Intransparenz. Aber auch der Bedeutungsverlust bisheriger „Leitplanken“ durch den Bedeutungsanstieg von Identitätsfragen, eine nachlassende Bindung an gesellschaftliche Organisationen oder eine zunehmende Individualisierung sind (als Beispiele) zu nennen.

 

Aufgaben, die sich daraus für die politische Bildung ergeben sind u. a.:

 

  • die Thematisierung der gesellschaftspolitischen, ökonomischen und ethischen Aspekte der Digitalen Transformation;
  • die Befähigung zum Umgang mit digitalen Medien, Mediengestaltung und Vermittlung von medienkritischem Denken;
  • die Befähigung zur kritisch-reflexiven Auseinandersetzung mit den Ursachen sowie den Folgen der Digitalen Transformation;
  • ein Ausgleich für die nachlassende Bedeutung von „Leitplanken“ schaffen;
  • Grundverständnis für Pluralismus wecken;
  • Verfahren der Bürgerbeteiligung begleiten;
  • „algorithmisches Grundverständnis“ vermitteln.

 

Die zentralen Themen Digitalisierung, inklusive politische Bildung, politische Bildung mit Haltung sowie globale Entwicklungsziele wurden in vier Ideenwerkstätten zur Neuvermessung der politischen Bildung aufgegriffen. Die Rolle, die Angebote und Formate sowie das Selbstverständnis und die gesellschaftliche Funktion der politischen Bildung wurden angesichts aktueller globaler Entwicklungen kritisch reflektiert und es wurden konkrete Handlungsschritte entwickelt. Es wurde z. B. angeregt, eine Analyse von Risiko und Vorteil, die durch Transformationsprozesse entstehen, vorzunehmen, Wissenslücken zu schließen und Expertise zu entwickeln. Es müssen Perspektivwechsel ermöglicht und Kontroversität zugelassen werden. Neue Herausforderungen verlangen ebenso nach neuen Kooperationen und neuen Zusammenarbeitsformen. Nicht zuletzt geht es auch um ein größeres professionelles Selbstbewusstsein und eine stärkere Sichtbarkeit der politischen Bildung.

 

„Transformationen. Globale Entwicklungen und die Neuvermessung der politischen Bildung“ – auch wenn das Thema hoch ambitioniert war, hat sich am Ende der Tagung bestätigt, dass es gut und richtig gewählt war. Die neue Qualität der globalen Entwicklungen – Digitalisierung, Migration, Klimawandel u. a. – liegt in ihrer Gleichzeitigkeit und in der Radikalität ihres Veränderungspotenzials. Das kann und wird nicht ohne Auswirkungen auf die politische Bildung bleiben. Die Transformationen sind Treiber, „alte“ Fragen neu zu stellen. Jetzt sind die Akteure der politischen Bildung gefragt, auf die „alten“ Fragen neue Antworten zu geben. Die Tagung hat gezeigt, dass sie das können.