Wenn wir uns diesen Fragen widmen, geht es u. a. darum, wie wir mit unserer Bildungsarbeit dazu beitragen können, dass dominante Erzählungen aufgebrochen werden, indem sie durch marginalisierte Perspektiven in Frage gestellt werden.
Um eine inklusive und auf Teilhabe orientierte Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft zu erproben, die auf der Basis der Bürgerrechte agiert, gilt es z. B. das häufig normativ aufgeladene Feld der Erinnerungskulturen neu zu öffnen und das Konzept „Multidirectional Memory“ von Michael Rothberg weiterzuentwickeln. Ziel kann und mag sein, bislang marginalisierte Positionen und Perspektiven in alle Erinnerungsdiskurse gleichberechtigt aufzunehmen. Im gegenwärtigen Europa stehen die (eurozentristischen) Grundnarrative von Holocaust-Erinnerungen schon lange nicht mehr „nur“ für sich.
Vielmehr treffen sie mit postmigrantischem Wissen und Erinnerungspraxen etwa an Kolonialisierung, Flucht- und Bürgerkriegs-, Diskriminierungs- und Verfolgungserfahrungen zusammen. Bislang weitestgehend marginalisierte Vergangenheitsperspektiven wie diese sind immer unmittelbar mit deutscher Geschichte verbunden. Der Prozess, aus beiden ein integriertes Erinnern machen zu können, ist aktuell bereits in vollem Gange – verbunden sicherlich mit Prozessen der Dekolonialisierung von Erinnerung sowie einer rassismuskritischen Grundanalyse oder mit emanzipatorischen jüdischen Interventionen, die das sogenannte Gedächtnistheater der deutschen Erinnerungskultur an die Schoah herausfordern. Nicht zuletzt im Rahmen dieser Entwicklungen ist der Blick auf einen Kontextualitätswandel von Erinnerungslandschaften und (trans-)nationalen Narrativen zwingend notwendig, wenn wir von inklusiver Erinnerungsarbeit sprechen wollen.
Aber auch die nichterzählte(n) Geschichte(n) und Erfahrungen sozialer Bewegungen und Kämpfe religiöser Minderheiten, die Erinnerungshintergründe von z. B. Selbsthilfe- und Migrant*innenselbstorganisationen, die Teilhabe und Anerkennungskämpfe von Menschen mit Behinderungen verschieben und erweitern inklusive Erinnerungslandschaften. Marginalisierte Erinnerungen sind dabei nicht länger Themen Marginalisierter selbst – sie laden ausdrücklich dazu ein, „traditionelle“ Ausschlüsse aufzuheben; auch dann, wenn es um das Erinnern geht. Gemeinsam kann dieser integrierte Blick – sensibel für die Frage: „Von wem wird an wen erinnert?“ – Nährboden und Grundlage eines orientierenden Narrativs für das postmigrantische Deutschland sein. Denn er ermöglicht einen veränderten Blick auf die Verbindungen zwischen Erinnerungen und Identität. Sie tragen mit sich eine Neukonzeptionierung von Staatsbürgerschaft (act of citizenship) und brechen mit traditionellen Zugehörigkeitsmustern und mit Ausschlussstrukturen.
Ihre neuen Mitmachpotenziale zur engagierten Teilhabe verknüpfen Erinnerung mit aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und können so dazu beitragen, die Vorstellung vom „naturgegebenen“ Nationen- oder Zugehörigkeitsverständnis als Identitätskategorie zu überwinden. Ungeachtet all dieser Bemühungen gibt es aber weder flächendeckend inklusive Angebote, noch werden die vielfältigen, teilweise lokalspezifischen Facetten migrantischer Narrative, widerständischen Bewegungen und vergessenen Geschichten öffentlich erzählt.
Verkomplizierung von Geschichte
Die von der Fachgruppe gemeinsam ausgerichtete Werkstatt-Tagung „Ausgeblendete Aspekte der Erinnerungskulturen im Spannungsfeld zwischen Inklusion und Desintegration“ gab Gelegenheit, Erfahrungen und Positionen zu diesem hoch-spannenden und ohne Zweifel zukunftszugewandten Thema auszutauschen und zu reflektieren.
Die erste Vortragende, Peggy Piesche, definierte Erinnerungsarbeit in ihrem Vortrag als Archäologie: „In der intersektionalen Erinnerungsarbeit geht es uns wie Archäolog*innen, wir müssen immer wieder unsere Geschichte ausgraben.“ Damit bezog sie sich auf das Fehlen von Räumen, in denen marginalisierte Geschichte weitergegeben und somit eine intergenerationale Erinnerungsarbeit vollzogen werden kann. Als Beispiel marginalisierter Geschichte in Deutschland nannte sie die Verfolgungs- und Widerstandgeschichte der Sinti*zze und Rom*nja, die in Deutschland eine sehr lange Bürgerrechtsbewegung haben. Diese Geschichte kommt im dominanten nationalen Narrativ jedoch kaum vor. Peggy Piesche führte weiter aus, dass es in der politischen Bildungsarbeit zu einer Verschränkung der drei Konzepte Diversität, Intersektionalität und Dekolonialität kommen muss, „(…) damit wir inklusiv und erweiternd Räume gestalten können (…). Erinnerung und Erinnerungsarbeit ist Partizipationsarbeit.“ Der Auftrag für die politische Bildungsarbeit lautete: Aufarbeitung von Leerstellen, von Themen, die weggeschoben werden, die Gestaltung von Räumen des Er- und Verlernens von dominanten und exkludierten Erinnerungsnarrativen. Für die Praxis bedeutet das: Geschichten nicht aus den Zentren, sondern aus marginalisierter Perspektive zu erzählen. Dadurch ändert sich auch der Blick auf Vergangenes. Als Beispiel führte die Referentin die Erzählungen über die Wende an. Wenn diese aus einer BPoC-Perspektive erzählt wird, kann sie dann noch als friedliche Revolution beschrieben werden? Piesche betonte, dass politische Bildung auch für BPoC da ist und somit Lernräume anbieten muss, wo sie ihre Geschichten intergenerational weitertragen können, um nicht wieder neue Archäolog*innen auszubilden. Marginalisierte Perspektiven sind nicht additiv zu „inkludieren“, sondern sind gleichberechtigt im Diskurs zu verhandeln. Hierfür muss die häufig nicht-markierte Perspektive der Dominanzgesellschaft sichtbar und die ihr unterstellte „Allgemeingültigkeit“ angreifbar gemacht werden. Inklusion definierte sie als beidseitigen Prozess: Das Zentrum, in das inkludiert werden soll, versprachlicht und markiert sich nicht selbst. Dies muss es aber, um Inklusion zu ermöglichen (vgl. dazu auch Piesche 2020).
„Erinnerungskultur, die ihren Namen verdient, ist Diskriminierungskritik.“
(Max Czollek)
Der zweite Vortrag von Max Czollek knüpfte an diese Forderung an. Mit seinem Konzept der Desintegration kritisierte er das von der Dominanzgesellschaft geforderte Konzept der Integration. Bezogen auf die deutsche Erinnerungskultur bedeutet das, zu verdeutlichen, wie Juden und Jüdinnen für die Erlösung von Schuld der deutschen Mehrheitsgesellschaft instrumentalisiert werden. Er stellte dar, dass unterschiedliche Gruppen auch unterschiedliche Bedürfnisse an Erinnerung haben. So haben Täter*innen das Bedürfnis nach Entlastung und Versöhnung – im Gegensatz zu den Nachkommen der im NS-Staat verfolgten Gruppen. Es bedarf also eine Pluralisierung von Erinnerungsräumen. Er forderte dazu auf, zu hinterfragen, wem die dominante Form der Erinnerungspolitik dient und die Rollen, die marginalisierten Personen(-gruppen) zugewiesen werden, zu kritisieren. Anknüpfend an Peggy Piesche forderte er zur Desintegration marginalisierter Gruppen aus diesen dominanten Strukturen auf.
Er argumentierte weiter, dass mittels einer Normalisierung der Erinnerungskultur Kontinuitäten rechten Terrors und rechter Gewalt ausgeblendet werden. Dabei muss die Erinnerungskultur in Deutschland jedoch so gestaltet werden, dass sich die Geschichte nicht wiederholt (dabei bezog er sich auf Theodor W. Adorno: „Damit sich Auschwitz nicht wiederhole“). Dazu wird eine Diskriminierungskritik, eine Thematisierung der Vielfalt an Gewaltgeschichten und ein Fokus auf die Bekämpfung rechten Denkens benötigt. Sein Appell an die Erinnerungsarbeit lautete demnach auch, sich kritisch mit Erinnerungskultur auseinanderzusetzen, denn Erinnerung – an wen in welcher Form erinnert wird – ist hochgradig politisch.