“Demokratie
braucht
politische Bildung”

Wessen Erinnerung zählt? – Die Rolle der politischen Bildung für eine inklusive und auf Teilhabe orientierte Erinnerungskultur

Bericht der Fachgruppe „Erinnerungskultur und Teilhabe“
Programm Politische Jugendbildung im AdB

Wessen Erinnerung zählt? Welche Stimmen und wessen Geschichte(n) werden gehört und welche unsichtbar gemacht, welche aktiv ausgeblendet? Und welche Rolle spielen diese Fragestellungen für die außerschulische politische Bildung? Im vergangenen Jahr setzte sich die Fachgruppe Erinnerungskultur und Teilhabe mit Fragen rund um die Gestaltung einer inklusiven Erinnerungskultur auseinander.

Einblicke in den Tagungsablauf
Einblicke in den Tagungsablauf, Foto: Soziale Bildung e. V.

Wenn wir uns diesen Fragen widmen, geht es u. a. darum, wie wir mit unserer Bildungsarbeit dazu beitragen können, dass dominante Erzählungen aufgebrochen werden, indem sie durch marginalisierte Perspektiven in Frage gestellt werden.

Um eine inklusive und auf Teilhabe orientierte Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft zu erproben, die auf der Basis der Bürgerrechte agiert, gilt es z. B. das häufig normativ aufgeladene Feld der Erinnerungskulturen neu zu öffnen und das Konzept „Multidirectional Memory“ von Michael Rothberg weiterzuentwickeln. Ziel kann und mag sein, bislang marginalisierte Positionen und Perspektiven in alle Erinnerungsdiskurse gleichberechtigt aufzunehmen. Im gegenwärtigen Europa stehen die (eurozentristischen) Grundnarrative von Holocaust-Erinnerungen schon lange nicht mehr „nur“ für sich.

 

Vielmehr treffen sie mit postmigrantischem Wissen und Erinnerungspraxen etwa an Kolonialisierung, Flucht- und Bürgerkriegs-, Diskriminierungs- und Verfolgungserfahrungen zusammen. Bislang weitestgehend marginalisierte Vergangenheitsperspektiven wie diese sind immer unmittelbar mit deutscher Geschichte verbunden. Der Prozess, aus beiden ein integriertes Erinnern machen zu können, ist aktuell bereits in vollem Gange – verbunden sicherlich mit Prozessen der Dekolonialisierung von Erinnerung sowie einer rassismuskritischen Grundanalyse oder mit emanzipatorischen jüdischen Interventionen, die das sogenannte Gedächtnistheater der deutschen Erinnerungskultur an die Schoah herausfordern. Nicht zuletzt im Rahmen dieser Entwicklungen ist der Blick auf einen Kontextualitätswandel von Erinnerungslandschaften und (trans-)nationalen Narrativen zwingend notwendig, wenn wir von inklusiver Erinnerungsarbeit sprechen wollen.

 

Aber auch die nichterzählte(n) Geschichte(n) und Erfahrungen sozialer Bewegungen und Kämpfe religiöser Minderheiten, die Erinnerungshintergründe von z. B. Selbsthilfe- und Migrant*innenselbstorganisationen, die Teilhabe und Anerkennungskämpfe von Menschen mit Behinderungen verschieben und erweitern inklusive Erinnerungslandschaften. Marginalisierte Erinnerungen sind dabei nicht länger Themen Marginalisierter selbst – sie laden ausdrücklich dazu ein, „traditionelle“ Ausschlüsse aufzuheben; auch dann, wenn es um das Erinnern geht. Gemeinsam kann dieser integrierte Blick – sensibel für die Frage: „Von wem wird an wen erinnert?“ – Nährboden und Grundlage eines orientierenden Narrativs für das postmigrantische Deutschland sein. Denn er ermöglicht einen veränderten Blick auf die Verbindungen zwischen Erinnerungen und Identität. Sie tragen mit sich eine Neukonzeptionierung von Staatsbürgerschaft (act of citizenship) und brechen mit traditionellen Zugehörigkeitsmustern und mit Ausschlussstrukturen.

Ihre neuen Mitmachpotenziale zur engagierten Teilhabe verknüpfen Erinnerung mit aktuellen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und können so dazu beitragen, die Vorstellung vom „naturgegebenen“ Nationen- oder Zugehörigkeitsverständnis als Identitätskategorie zu überwinden. Ungeachtet all dieser Bemühungen gibt es aber weder flächendeckend inklusive Angebote, noch werden die vielfältigen, teilweise lokalspezifischen Facetten migrantischer Narrative, widerständischen Bewegungen und vergessenen Geschichten öffentlich erzählt.

 

Verkomplizierung von Geschichte

 

Die von der Fachgruppe gemeinsam ausgerichtete Werkstatt-Tagung „Ausgeblendete Aspekte der Erinnerungskulturen im Spannungsfeld zwischen Inklusion und Desintegration“ gab Gelegenheit, Erfahrungen und Positionen zu diesem hoch-spannenden und ohne Zweifel zukunftszugewandten Thema auszutauschen und zu reflektieren.

 

Die erste Vortragende, Peggy Piesche, definierte Erinnerungsarbeit in ihrem Vortrag als Archäologie: „In der intersektionalen Erinnerungsarbeit geht es uns wie Archäolog*innen, wir müssen immer wieder unsere Geschichte ausgraben.“ Damit bezog sie sich auf das Fehlen von Räumen, in denen marginalisierte Geschichte weitergegeben und somit eine intergenerationale Erinnerungsarbeit vollzogen werden kann. Als Beispiel marginalisierter Geschichte in Deutschland nannte sie die Verfolgungs- und Widerstandgeschichte der Sinti*zze und Rom*nja, die in Deutschland eine sehr lange Bürgerrechtsbewegung haben. Diese Geschichte kommt im dominanten nationalen Narrativ jedoch kaum vor. Peggy Piesche führte weiter aus, dass es in der politischen Bildungsarbeit zu einer Verschränkung der drei Konzepte Diversität, Intersektionalität und Dekolonialität kommen muss, „(…) damit wir inklusiv und erweiternd Räume gestalten können (…). Erinnerung und Erinnerungsarbeit ist Partizipationsarbeit.“ Der Auftrag für die politische Bildungsarbeit lautete: Aufarbeitung von Leerstellen, von Themen, die weggeschoben werden, die Gestaltung von Räumen des Er- und Verlernens von dominanten und exkludierten Erinnerungsnarrativen. Für die Praxis bedeutet das: Geschichten nicht aus den Zentren, sondern aus marginalisierter Perspektive zu erzählen. Dadurch ändert sich auch der Blick auf Vergangenes. Als Beispiel führte die Referentin die Erzählungen über die Wende an. Wenn diese aus einer BPoC-Perspektive erzählt wird, kann sie dann noch als friedliche Revolution beschrieben werden? Piesche betonte, dass politische Bildung auch für BPoC da ist und somit Lernräume anbieten muss, wo sie ihre Geschichten intergenerational weitertragen können, um nicht wieder neue Archäolog*innen auszubilden. Marginalisierte Perspektiven sind nicht additiv zu „inkludieren“, sondern sind gleichberechtigt im Diskurs zu verhandeln. Hierfür muss die häufig nicht-markierte Perspektive der Dominanzgesellschaft sichtbar und die ihr unterstellte „Allgemeingültigkeit“ angreifbar gemacht werden. Inklusion definierte sie als beidseitigen Prozess: Das Zentrum, in das inkludiert werden soll, versprachlicht und markiert sich nicht selbst. Dies muss es aber, um Inklusion zu ermöglichen (vgl. dazu auch Piesche 2020).

 

„Erinnerungskultur, die ihren Namen verdient, ist Diskriminierungskritik.“
(Max Czollek)

 

Der zweite Vortrag von Max Czollek knüpfte an diese Forderung an. Mit seinem Konzept der Desintegration kritisierte er das von der Dominanzgesellschaft geforderte Konzept der Integration. Bezogen auf die deutsche Erinnerungskultur bedeutet das, zu verdeutlichen, wie Juden und Jüdinnen für die Erlösung von Schuld der deutschen Mehrheitsgesellschaft instrumentalisiert werden. Er stellte dar, dass unterschiedliche Gruppen auch unterschiedliche Bedürfnisse an Erinnerung haben. So haben Täter*innen das Bedürfnis nach Entlastung und Versöhnung – im Gegensatz zu den Nachkommen der im NS-Staat verfolgten Gruppen. Es bedarf also eine Pluralisierung von Erinnerungsräumen. Er forderte dazu auf, zu hinterfragen, wem die dominante Form der Erinnerungspolitik dient und die Rollen, die marginalisierten Personen(-gruppen) zugewiesen werden, zu kritisieren. Anknüpfend an Peggy Piesche forderte er zur Desintegration marginalisierter Gruppen aus diesen dominanten Strukturen auf.

 

Er argumentierte weiter, dass mittels einer Normalisierung der Erinnerungskultur Kontinuitäten rechten Terrors und rechter Gewalt ausgeblendet werden. Dabei muss die Erinnerungskultur in Deutschland jedoch so gestaltet werden, dass sich die Geschichte nicht wiederholt (dabei bezog er sich auf Theodor W. Adorno: „Damit sich Auschwitz nicht wiederhole“). Dazu wird eine Diskriminierungskritik, eine Thematisierung der Vielfalt an Gewaltgeschichten und ein Fokus auf die Bekämpfung rechten Denkens benötigt. Sein Appell an die Erinnerungsarbeit lautete demnach auch, sich kritisch mit Erinnerungskultur auseinanderzusetzen, denn Erinnerung – an wen in welcher Form erinnert wird – ist hochgradig politisch.

Ausstellung „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“
Ausstellung „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“, Foto: Soziale Bildung e. V.

Nora Sternfeld knüpfte an ihre Vorredner*innen mit der These „Erinnerung ist umkämpft und umstritten, weil marginalisierte Erinnerungen immer wieder aufs Neue gegen bereits bestehende Erinnerungskulturen erkämpft werden müssen“ an. Für die politische Bildung stellte sie die Frage, was es bedeutet, wenn Erinnerungsorte Orte kollektiver nationaler Erinnerung sind oder anders gesagt: wenn die kollektive Erinnerung nicht nur eine nationale ist? In diesem Kontext beschrieb sie Erinnerungsorte als Kontaktzonen. Kontaktzonen sind geteilte Räume, in denen komplexe Interaktionen möglich sind. Erinnerungsorte sind zudem Konfliktzonen. Wo unterschiedliche Erinnerungen zusammenkommen, kommt es auch zu Konflikten, was eine Selbstverständlichkeit von Demokratie ist.

 

Die Anerkennung von Erinnerungsorten als Kontaktzonen bedeutet für Sternfeld zudem anzuerkennen, welche Erinnerungen in einem Raum vorhanden sind. Als Beispiel für Österreich führte sie an, dass im Schulunterricht bei der Behandlung der Geschichte des Nationalsozialismus die Naziverbrechen im ehemaligen Jugoslawien so gut wie nie behandelt werden. Viele Jugendliche haben aber eine familiäre Verbindung zu dieser Geschichte. Die eigene Familiengeschichte erhält somit keinen Resonanzraum und kann ein Desinteresse an Geschichte produzieren. Ihr Appell an die Bildungsarbeit lautete deshalb, zu hören, welche Erinnerungen in einem Raum vorhanden sind, zu versuchen gemeinsam zu verstehen und ggf. auch sich selbst als Bildner*in einzugestehen, dass man selbst nicht alles weiß. Es geht darum, gemeinsam zu überlegen, was die verschiedenen Erinnerungen miteinander verbindet. So können Kontaktzonen Orte der Solidarität sein. Auf diese Weise entstehen Räume, die wir nicht anhand von Ausschlüssen definieren und wo keine homogenisierenden Identitätszuschreibungen stattfinden. Nora Sternfeld beschrieb Geschichtsvermittlung als Erinnerungsarbeit. Wir müssen uns fragen, welche Bedeutung die Vergangenheit für die Gegenwart hat. Aus der Gegenwart heraus verhandeln, welche Bedeutung die Geschichte heute hat – nicht die Geschichte benutzen, um die Gegenwart zu legitimieren.

 

Als aktuelles Beispiel nannte sie die Erinnerungskultur in Bezug auf die rassistischen Morde des sogenannten NSU: „Wie passt das denn zusammen mit einer ziemlich gut etablierten Erinnerungskultur, die mal erkämpft wurde, wenn es dann wieder Nazi-Morde und rechten Terror gibt und auch da die Betroffenen und die Opfer um Aufklärung und Erinnerung kämpfen müssen.“ Dieses Beispiel knüpfte auch an Czolleks Kritik an, dass die deutsche Erinnerungskultur nicht dazu führt, dass sich Geschichte nicht wiederholt (vgl. Czollek 2021).

 

„Als ob die Erinnerung an den Holocaust tief in der deutschen Gesellschaft verankert wäre“ (Rosa Fava)

 

Abschließend problematisierte Rosa Fava Bildungsprozesse zum Nationalsozialismus und Holocaust, in denen eine Gegenüberstellung von Jugendlichen, die eine deutsch-deutsche Familiengeschichte haben, und Jugendlichen ohne deutsche Vorfahren stattfindet. In solchen sogenannten Otheringprozessen wird oftmals impliziert, dass sich die Erinnerung an den Holocaust zwischen diesen beiden Gruppen unterscheiden würde. Auf der einen Seite wird die Gruppe weiß-deutscher Jugendlicher konstruiert, die die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen sozusagen „in ihrer DNA haben“ und auf der anderen Seite die Jugendlichen of Color, die keine familienbiografischen Bezüge zur NS-Geschichte und Holocaust haben. Das bringe Schwierigkeiten in der Vermittlung mit sich. Hier konnte zum einem ein Bogen zu Czolleks Vortrag gespannt werden, der bereits darlegte, wie wichtig Juden und Jüdinnen für das Selbstverständnis der deutschen Erinnerungskultur sind. Favas Vortrag verdeutlichte die Rolle der migrantisierten Anderen für die Konstruktion des eigenen Selbstbildes als „Erinnerungsweltmeister“. Darüber hinaus machte Fava deutlich, welche Kontaktzonen (nach Sternfeld 2013), in vielen Bildungsprozessen verpasst werden: Was fehlt ist z. B. die Beachtung, dass durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Sezessionskriege in Jugoslawien heute mehr jüdische und Roma-Kinder in den Klassen sind. Ihre Vorfahren hatten sehr direkt Verbindungen zum Nationalsozialismus. Hier könnte ein tatsächlicher Zusammenhang zwischen aktueller Migration und Nationalsozialismus gesehen und Diskursräume eröffnet werden. Schließlich problematisierte Rosa Fava wie zu Beginn der Tagung bereits Peggy Piesche, dass Pädagog*innen in Bildungssektoren, seien es Schulen, Gedenkstätten oder in der außerschulischen Bildung, zum großen Teil einen deutsch-deutschen Hintergrund haben (vgl. auch Fava 2015).

 

Zusammengefasst befasste sich die Tagung mit unterschiedlichen Ansätzen, Erinnerungskulturen anders zu denken als dies im dominanten Diskurs geschieht. Weg von der Inklusionslogik der Dominanzgesellschaft hin zu emanzipatorischen Erinnerungsräumen, die eine Pluralität an Perspektiven abbilden und Konflikte zulassen. Räume, die das Er- und Verlernen ermöglichen. Die Vortragenden sprachen sich dafür aus, die Geschichte zu verkomplizieren und Eindeutigkeiten aufzulösen.

 

Für unsere praktische Arbeit als politische Bildner*innen können wir daraus unterschiedliche Inspirationen und Fragen mitnehmen. Die Frage, was hat Geschichte und Erinnerung eigentlich mit mir/mit uns zu tun und welchen Zweck verfolge ich mit meiner Erinnerungsarbeit, muss zum Beispiel immer wieder neu gestellt werden. Lernmaterialien und Methoden müssen kritisch hinterfragt und fehlende Perspektiven – zumindest – benannt werden. Das bedeutet auch, dass in unseren Einrichtungen die Strukturen und die Mitarbeitenden, die sich diversifizierende Gesellschaft repräsentieren müssten. Schließlich ist eine diskriminierungskritische Erinnerungsarbeit eine notwendige Voraussetzung, um historisch verwurzelte Ungerechtigkeiten sichtbar zu machen und in der Gegenwart zu bewältigen.

 

Literatur

Czollek, Max (2021): Versöhnungstheater. Anmerkungen zur deutschen Erinnerungskultur. In: bpb (2021): Jüdisches Leben in Deutschland; (Zugriff: 25.01.2022)

Fava, Rosa (2015): Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft. Eine rassismuskritische Diskursanalyse. Berlin: Metropol

Piesche, Peggy (Hrsg.) (2020): Labor 89: Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus West und Ost, Berlin: Yılmaz-Günay

Sternfeld, Nora (2013): Kontaktzonen der Geschichtsvermittlung. Transnationales Lernen über den Holocaust in der postnazistischen Migrationsgesellschaft. Wien: Zaglossus

 

Bericht aus der Praxis

Feldpost

Ein Escape Game zum Ersten Weltkrieg

Feldpost
Feldpost, Foto: Waldritter e. V./Daniel Steinbach

Für das von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb geförderte Escape Game hat das aktuelle forum e. V. mit dem Waldritter e. V. zusammengearbeitet und ein mobiles Escape Game entwickelt. Escape Rooms sind momentan eine beliebte Art der Freizeitgestaltung, die von vielen Jugendlichen und Erwachsenen gespielt werden. Hierbei betritt eine Kleingruppe zwischen 2 und 6 Personen einen eigens dafür erstellten Raum und muss verschiedene Rätsel lösen und Aufgaben bewältigen. Ziel ist es, den Schlüssel zum Ausgang zu finden oder ein großes Rätsel innerhalb des Raumes zu lösen. Manchmal geht es darum, einen Schatz zu bergen oder eine wichtige Information zu finden. In der Regel hat die Gruppe dafür nur maximal 60 Minuten Zeit. In Deutschland gibt es weit mehr als eintausend solcher Escape Rooms. Da die Methode davon lebt, dass sich die Teilnehmenden innerhalb der vorgegebenen Zeit hochkonzentriert auf das Erlebnis einlassen, eignet sie sich auch, um Inhalte der politischen Bildung zu vermitteln. Genau dies haben bereits mehrere Bildungsträger erkannt.

 

Beim Escape Game „Feldpost” handelt es sich um ein sehr kompaktes und damit schnell und einfach einsetzbares Escape Game zum Thema Erinnerungskultur, speziell zum Ersten Weltkrieg. Es bedarf keinerlei Vorbereitung und Aufbauzeit und kann mobil eingesetzt werden. Die Idee des Spiels ist es, dass sich die Teilnehmenden nach und nach Bruchstücke der Geschichte des ersten Weltkriegs anhand einer Liebesgeschichte von einem Soldaten und seiner zu Hause gebliebenen Freundin erschließen.

 

Die Teilnehmenden erhalten eine alte Holzkiste, ein altes Foto im Rahmen und den Nachruf auf einen verstorbenen Soldaten mit dem Hinweis, dass die Seminarleitung dies bei einer verstorbenen alten Dame auf dem Dachboden gefunden hat. Anschließend wird das Spiel von den Teilnehmenden gespielt.

 

Die Inhalte des Spiels sind reine Fiktion. Jedoch wird hierbei mit authentischen Dokumenten oder leicht abgewandelten Dokumenten gearbeitet. Der Nachruf beispielsweise ist der einer tatsächlichen Person – lediglich der Name wurde angepasst. Im Spiel selbst finden und erspielen sich die Teilnehmenden nach und nach verschiedene Briefe – Feldpost –, die ein deutscher Soldat im Ersten Weltkrieg an seine daheim gebliebene Geliebte schreibt. Die Briefe sind so aufgebaut, dass die Entwicklung des Krieges und die Gefühle der beteiligten Soldaten eine tragende Rolle spielen. Zunächst zieht der fiktive Soldat voller Freude und Tatendrang in den Krieg und hofft auf einen baldigen Sieg. Doch schon bald wird ihm klar, wie grausam Krieg eigentlich ist. Die Hoffnung auf ein schnelles Ende des Krieges schwindet dahin und am Ende weiß der Soldat schon gar nicht mehr, weshalb er sich überhaupt auf den Krieg eingelassen hat. Das Spiel endet damit, dass die Spielenden den letzten Brief finden und dort erfahren, dass der im Krieg gefallene Soldat seiner Geliebten einen Heiratsantrag macht.

 

Anschließend werden die Teilnehmenden zu einer Reflexion eingeladen. Zunächst wird den Gefühlen Raum gegeben. Es werden vier Leitfragen zum Ersten Weltkrieg gestellt und schrittweise anhand des Materials sowie dem möglichen Vorwissen der Teilnehmenden beantwortet. Anhand der Feldpost-Briefe wird ein Zeitstrahl zum Ersten Weltkrieg aufgestellt, der sowohl örtlich als auch zeitlich die Geschehnisse, von denen in den Briefen berichtet wird, aufgreift und diese einordnet.

 

Während die ersten drei Leitfragen vor allem dem Hintergrund- und Basiswissen über den Ersten Weltkrieg dienen, befasst sich die letzte Frage mit den noch heute spürbaren Folgen des Ersten Weltkriegs: Mögliche Erkenntnisse aus der Reflexion sind hierbei Auswirkungen auf postkoloniale Strukturen auf dem afrikanischen Kontinent, Grenzkontrollen auch in Europa und letztlich der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Hinzu kommen eine Vielzahl von Todesopfern, Verwundete mit Spätfolgen, Hungersnöte, Armut und Zerstörung. So schrecklich der Erste Weltkrieg auch war, hat er doch einige positivere Dinge ins Rollen gebracht, wie die Versuche zum Aufbau eines Völkerbunds, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg mit der UNO umgesetzt werden konnte. Auch die Gründung der Europäischen Union kann als eine Folge aus dem Ersten und schließlich auch aus dem Zweiten Weltkrieg betrachtet werden. Die offene Diskussion über die Folgen des Ersten Weltkriegs – auch über mögliche persönliche Folgen für die Teilnehmenden – bildet den Abschluss der Reflexion.

 

Der Vorteil der Methode des mobil einsetzbaren Escape Games ist vor allem, dass Teilnehmende durch den Erlebnis-Faktor angesprochen werden und so motiviert werden, sich mit einem Thema, welches für sie erst einmal in weiter Vergangenheit zu liegen scheint, auseinanderzusetzen. Das Spiel selbst ist während des ersten Corona-Lockdowns entstanden und wurde danach bereits mehrfach mit unterschiedlichen Teilnehmendengruppen erfolgreich eingesetzt.

 

Verena Reichmann, aktuelles forum e. V. und Daniel Steinbach, Waldritter e. V.

 

Bericht aus der Praxis

Der NSU-Komplex als Thema politischer Bildung

Rückblick auf Projekttage im Rahmen des AdB-Jahresthemas 2021„Was WEISS ich? Rassismuskritisch denken lernen!“

 

In Gedenken an:

Enver Şimşek (2000), Abdurrahim Özüdoğru (2001), İsmail Yaşar (2005), Habil Kılıç (2001), Theodoros Boulgarides (2005), Süleyman Taşköprü (2001), Mehmet Turgut (2004), Mehmet Kubaşik (2006), Halit Yozgat (2006) und Michèle Kiesewetter (2007)

Projekttage zum NSU-Komplex
Foto: Soziale Bildung e. V.

Unter dem Motto „Kein Schlussstrich!“ haben sich 2021 Träger in 15 Städten zu einem bundesweiten Kulturprojekt zum Thema NSU-Komplex zusammengeschlossen. Ziel war es, Inszenierungen, Ausstellungen, Konzerte und musikalische Interventionen im öffentlichen Raum, Lesungen, Diskussionen, Workshops u.v.m. umzusetzen. Die vielfältigen Formate sollten die Perspektiven der Betroffenen sowie ihrer Angehörigen und die Perspektiven (post-)migrantischer Communities in die Öffentlichkeit bringen und zur Auseinandersetzung mit institutionellem und strukturellem Rassismus in unserer Gesellschaft anregen.

 

Als Teil des Kooperationsnetzes in Rostock, das durch das Volkstheater Rostock initiiert wurde, hat Soziale Bildung e. V. sich mit zwei Formaten im Bereich der politischen Jugendbildung beteiligt: Zum einen wurde die Ausstellung „Offener Prozess“ in Kombination mit der Ausstellung „Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen“ an zwei Orten realisiert und zum anderen wurden mit zwei Gruppen Projektwochen an zwei Rostocker Schulen umgesetzt.

 

Im Rahmen der Projekte kamen insbesondere pädagogische Methoden und Ansätze zur Anwendung, die bereits vom Träger entwickelt und in der Methodensammlung „Lichtenhagen im Gedächtnis“ veröffentlicht wurden.

 

Projekttagintegrierte Ausstellungsbegleitungen

 

In der Zeit vom 18.–31.10.2021 gastierten die Ausstellungen zunächst im Zukunftsladen „STERN.macht.PLATZ“ in Toitenwinkel, in der Nähe des Ortes, an dem Mehmet Turgut im Februar 2004 durch den NSU ermordet wurde. Danach wurden die Ausstellungen in der Zeit vom 01.–14.11.2021 im Bildungs- und Kulturzentrum Peter-Weiss-Haus gezeigt.

 

In Kooperation mit dem Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten e. V. wurden im Rahmen des AdB-Jahresthemas „Was WEISS ich? Rassismuskritisch denken lernen! Eine Kernaufgabe für Gesellschaft und Politische Bildung“ für schulische und außerschulische Gruppen Ausstellungsbegleitungen in Form von Projekttagen konzipiert und angeboten.

 

Die übergeordneten Lernziele der Projekttage waren das Kennenlernen von Betroffenenperspektiven in der Auseinandersetzung mit rechter Gewalt und das Erkennen historischer Kontinuitäten in der Verbindung von rechter Gewalt und institutionellem Rassismus.

 

In den Projekttagen machten sich Teilnehmende mit verschiedenen Dimensionen des NSU-Komplex vertraut: mit den Rollen von staatlichen Sicherheitsorganen und der rechten Szene, mit der Bedeutung des gesellschaftlichen Schweigens und dem Einfluss von rassistischer Berichterstattung sowie der Unabgeschlossenheit der Aufarbeitung der rassistischen Mord- und Anschlagsserie.

 

Zentral war dabei der lokale Bezug zu dem Wohnort der Jugendlichen, dem Ort, an dem Mehmet Turgut ermordet wurde. Vor diesem Hintergrund beschäftigten sich die Teilnehmenden in den Ausstellungsbegleitungen mit der Biografie Mehmet Turguts sowie den Perspektiven und Forderungen der Familie Turgut. Außerdem lernten sie die konfliktreiche Geschichte der städtischen Erinnerung an Mehmet Turgut kennen und entwarfen eigene Gedenkorte.

 

Die Workshops wurden mit 7 Gruppen, die aus dem schulischen oder außerschulischen Kontext kamen, mit insgesamt 80 Teilnehmenden ab dem Alter von 15 Jahren durchgeführt. Unter Rückgriff auf bereits vorhandene Methoden wurden für das Projekt pädagogische Ansätze neu konzipiert und in der Form erstmalig angeboten. In Zusammenarbeit mit freiberuflichen Bildungsreferent*innen konnten und mussten diese im Laufe des Projekts basierend auf den Durchführungserfahrungen kontinuierlich überarbeitet und angepasst werden.

 

Es zeigte sich, dass der lokale Bezug und der Fokus auf die Biografie von Mehmet Turgut und auf die Forderungen der Angehörigen didaktisch sinnvoll waren, da sich die Teilnehmer*innen zum einen auf eine Biografie fokussieren konnten und zum anderen ein ortsbezogener lebensweltlicher Bezug hergestellt wurde. Auch die Thematisierung von Erinnerung in Rostock hat hier gepasst. Einige Teilnehmende konnten z. B. nach den Projekttagen den Gedenkort an Mehmet Turgut (Betonbänke zwischen Toitenwinkel und Dierkow) das erste Mal deuten. Auch die Aktivierung, am Ende der Projekttage in Kleingruppen eigene Erinnerungsorte zu entwerfen, hat gute Diskussionen und Auseinandersetzungsprozesse anregt.

 

Projektwochen zum NSU-Komplex – Verknüpfung von kultureller und politischer Bildung

 

Initiierendes Moment für Projektwochen an zwei Schulen war die konzeptionelle Idee, dass junge Menschen aus Rostock dazu angeregt werden, sich in Form einer perkussiven Soundperformance an einem dezentralen Oratorium zu beteiligen. Die gesamte Performance setzte sich aus Beiträgen zusammen, die an insgesamt sieben Orten bundesweit dargeboten wurden, die im Kontext des NSU-Komplexes bedeutend sind. Basierend auf der Idee von Marc Sinan setzten sich die einzelnen Teile an drei Abenden zu dem Stück MANİFEST(O) zusammen. Die einzelnen Performance-Teile aus den Städten wurden nach Jena und Nürnberg per Video übertragen, dort vor Ort durch weitere Aufführungen ergänzt und zu einer Art Oratorium zusammengeführt.

 

In Rostock war das Volkstheater Rostock koordinierend mit der Umsetzung des performativen Fragments im Rahmen des bundesweiten Theaterprojektes „Kein Schlussstrich!“ aktiv und fragte Soziale Bildung e. V. an, die Projektwochen gemeinsam konzeptionell zu planen und somit kulturelle Bildung und politische Jugendbildung zu verknüpfen.

 

Ausgehend von der komplexen Rahmung, die durch eine starke Produktorientierung und kompositorische Ausrichtung geprägt war und eine Performance zum Ziel hatte, war es eine konzeptionelle Herausforderung, die Projektwochen so auszugestalten, dass sich dem inhaltlich komplexen Thema genähert werden konnte, Verbindungen zwischen politischer und kultureller Bildung gestaltet und Entfaltungsräume und Ausdrucksformen für die Teilnehmenden eröffnet werden konnten, die ihren Interessen entsprechen und einen lebensweltlichen Bezug haben. Denn jenseits der künstlerischen Ansprüche sollten auch Prinzipien politischer Bildung gewahrt werden.

 

Inhaltlich wurden im Bereich der politischen Bildung folgende Schwerpunkte gesetzt (chronologisch aufgeführt): eine Bilderassoziation zum Gedenkort an Memet Turgut, Auseinandersetzung mit Dimensionen des NSU-Komplexes und die Rolle von Rassismus, Perspektiven und Forderungen der Angehörigen von Mehmet Turgut, Entwicklung von Vorstellungen dazu, in was für einem Stadtteil die Teilnehmenden gerne leben möchten, Assoziation zu den Tatorten des NSU, Biographiearbeit zu den Mordopfern, Stimmen und Forderungen aus der Zivilgesellschaft und Entwicklung eigener Forderungen an eine Gesellschaft der Vielen.

 

Nach Erfahrungen aus der ersten Projektwoche, wurde in der zweiten konzeptionell noch konsequenter die Ausgestaltung von Klangcollagen als Verknüpfungsmoment zu politischer Bildung fokussiert, die nicht primär das Oratorium im Blick hatten und von den Teilnehmenden selbstbestimmter gestaltet werden konnten. In dem Rahmen wurden beispielsweise Texte und Sounds zusammengesetzt, in denen die Teilnehmenden ihre Forderungen an eine Gesellschaft der Vielen zum Ausdruck bringen konnten. In dem Zuge sammelten die Jugendlichen jenseits der inhaltlichen Auseinandersetzung Erfahrungen in Musikproduktion und lernten neue Möglichkeiten kultureller Ausdrucksformen kennen.

 

Am Ende der Projektwochen nahmen wenige Jugendliche an der Aufführung des Oratoriums teil. Dies verwunderte das Projektteam nicht, denn Bedenken, die auch schon am Anfang des Projektes im Raum standen, konnten bis zum Ende nicht aufgelöst werden. Beispielsweise war das komplexe, übergeordnete und abstrakte künstlerische Gesamtkonzept des bundesweiten Theaterprojektes für Jugendliche kaum vermittelbar und die Projektstrukturen hatten wenig lebensweltliche Verknüpfung.

 

Jedoch stand neben den Bedenken auch außer Frage, dass wir uns am Vorhaben beteiligen, um einen Beitrag für die notwendige Auseinandersetzung mit dem Themenfeld anzuregen und keinen Schlussstrich zu ziehen.

 

Mit Blick auf unsere Projekte der politischen Bildung können wir resümieren, dass es sowohl nach den Projektwochen als auch nach den Ausstellungsbegleitungen viel positive Rückmeldung von den Teilnehmenden und dem pädagogischen Personal zur inhaltlichen und methodischen Ausgestaltung gab.

 

Jenseits dessen haben sich aber auch didaktische und inhaltliche Fragen und Herausforderungen eröffnet, die weiter im Träger erörtert werden und zu denen es interessant wäre, sich mit anderen Akteur*innen der historisch-politischen Bildung auszutauschen, die auch praktische Erfahrungen in dem Feld gesammelt haben.

 

Beispielsweise gilt es weiter zu reflektieren, wie es methodisch gut gelingen kann, die Perspektive von Betroffenen rassistischer Gewalt adäquat in politischer Bildung zu thematisieren und die im Falle des NSU-Komplexes häufig vorhandene kriminalistische Faszination für die Täter*innen (so unsere Erfahrungen) aufzubrechen und Perspektivwechsel hin zu den Betroffenen anzuregen.

 

Es zeigte sich, dass es ein Interesse an dem Thema gibt und die Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex viele Potenziale für macht- und rassismuskritische Bildungsarbeit bietet, in der Räume und Anlässe für das Lernen neuer und das Verlernen und Reflektieren bekannter Perspektiven gestaltet werden können.

 

Christoph Schultz, Soziale Bildung e.V.

 

 

Mitglieder der Fachgruppe „Erinnerungskultur und Teilhabe“

 

Mareike Mischke

Villa Fohrde e. V.

E-Mail: mareike.mischke@villa-fohrde.de

 

Verena Reichmann

aktuelles forum e. V.

E-Mail: v.reichmann@aktuelles-forum.de

 

Christoph Schultz

Soziale Bildung e. V.

E-Mail: c.schultz@soziale-bildung.org

 

Gina Schumm

Jugendkulturarbeit e. V.

E-Mail: g.schumm@jugendkulturarbeit.eu

 

Olan Scott Pinto

Jugendbildungsstätte Bremen – LidiceHaus gGmbH

E-Mail: scott.pinto@lidicehaus.de

 

Daniel Steinbach

Waldritter e. V.

E-Mail: daniel.steinbach@waldritter.de

 

Mani Tilgner

Anne Frank Zentrum e. V.

E-Mail: tilgner@annefrank.de

 

Katharina Wonnemann

Vogelsang IP gGmbH

E-Mail: katharina.wonnemann@vogelsang-ip.de