“Demokratie
braucht
politische Bildung”

Im Videochat mit Kassandra

Bericht der Fachgruppe "Digitale Medien und Demokratie"
Programm Politische Jugendbildung im AdB

"Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie …" Alle reden von Digitalisierung – wir möglichst nicht mehr. Nicht, wenn es um Zoom & Co geht. Die Pandemie macht aus der Not von fehlenden Kommunikationsmöglichkeiten die Tugend der Digitalisierung von Lernräumen und Arbeitsplätzen. Sichtbar aber wird dabei vor allem, wie sehr längst vor Corona erkannte Herausforderungen nicht bearbeitet wurden.

Politische Jugendbildung im wannseeFORUM, Foto: Andi Weiland
Politische Jugendbildung im wannseeFORUM, Foto: Andi Weiland

Ob misslungener Digitalpakt, hilfloser Umgang mit sozialen Netzwerken oder Rückschritte beim Datenschutz … – versäumt wurde, über Inhalte und Probleme der Digitalisierung durch Exklusion fördernde Strukturen und Mechanismen zu sprechen: vom fehlenden Internetzugang bis zum Plattform-Kapitalismus. Stattdessen rücken Nebenerscheinungen wie die Vor- und Nachteile des Homeoffice in den Mittelpunkt, das nur max. 25 % aller Arbeitsplätze betrifft, nicht wenige davon ohnehin in Kurzarbeit. In Kurzarbeit waren und sind auch ein Teil der Fachgruppenmitglieder.

 

Während diese Minderheit für ihre Selbstdarstellung in der neuen Zoom-, Big-Blue-Button- oder anderen Video-Wirklichkeit virtuelle Hintergründe aussucht, berichtet z. B. DIE ZEIT über das US-amerikanische Start-up Clearview, das aus illegal im Netz gesammelten Bildern Algorithmen zur Gesichtserkennung entwickelt, die nicht-weiße Menschen diskriminieren, und diese an staatliche US-Behörden verkauft. Im Juni 2020 titelt netzpolitik.org "Eine polnische Firma schafft gerade unsere Anonymität ab" und schreibt über PimEyes, die ihre kostenlose Suchmaschine mit Firmensitz in einem EU-Land ohne jede rechtliche Grundlage und Zustimmung mit mehr als 900 Millionen Gesichtern aus dem Internet speist. Die bildbasierte Kommunikation wird zum Sinnbild wachsender digitaler Disparität. Statt Vielfalt fördert das Netz zunehmend diskriminierende Ungleichheit. Die Pandemie wird wie in vielen Bereichen dabei zum Brennglas – ein Gemeinplatz, der sich leider nicht abnutzt sondern überall zeigt: Auch das löbliche Ringen um die Einhaltung hoher Datenschutzstandards bei der Entwicklung einer App zur Covid-19-Bekämpfung in Deutschland hat als „Nebenwirkung” den Ausschluss von Menschen. Für Smartphones, die älter als fünf Jahre sind, funktioniert die App nicht, weil sie sinnvoller Weise auf neueste Technologien setzt, die Datenschutz über Dezentralisierung und Handylaufzeit durch Akkuschonung favorisieren. Damit stehen einerseits Nutzer*innen-Interessen im Mittelpunkt, während gleichzeitig Exklusion durch fehlende Konsumkraft und Medienkompetenz u. a. in den App-Einstellungen vorprogrammiert ist. 25 Mio. Downloads bis Ende 2020 zeigen die mangelhafte Akzeptanz. Deutlich werden gleichzeitig die Komplexität und der damit verbundene Spagat, die Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen durch Digitalisierung lösen zu wollen und zu können. "Sie funktioniert – aber sie wirkt nicht" titelt ein Kommentar im ZDF und thematisiert die klaffende Lücke, die sich zwischen der Erwartung und der Realität auftut, wenn es um Problemlösung durch digitalisierte Unterstützung geht. Gedenk der enttäuschten Hoffnungen auf Teilhabe durch das Web 2.0 stellt sich ein Déjà-vu-Gefühl ein, das endlich dazu führen müsste, neben Investitionen in Hard- und Software, "digital Literacy", den Erwerb von Kompetenzen im Umgang mit Digitalisierung, in den Fokus zu rücken. Ob für Demokratie als politisches System oder den Wirtschaftsstandort – bei der Digitalisierung geht es längst nicht mehr nur um Zukunftsfähigkeit, sondern um existenzielle Fragen im Hier und Jetzt.

 

Auf stumm gestellt

Erst spät im Corona-Jahr 2020 rückte digital gestütztes Lernen vor allem im schulischen – und marginal im außerschulischen Bereich – in den Fokus der öffentlichen Diskussion, mindestens in den der Feuilletons. Auch hier kommen die meisten Stimmen aus dem Homeoffice, aus dem zurecht überforderte Eltern sich W-Lan und Rechner, Tablets und/oder Smartphones mit ihren Schulkindern teilen müssen. Über fehlende digitale Konzepte, technische Ausstattung und Kompetenz auf Seite der Lehrenden entsteht ein Klagechor, der jedoch viele Stimmen unterschlägt: Ohne Internetzugang, leistungsfähige Endgeräte und helfenden Eltern sind ein beträchtlicher Teil von Kindern und Jugendlichen dauerhaft auf stumm gestellt. Für sie geht es oft nicht um die Frage nach der Datenschutzsicherheit der Videokonferenzsoftware oder um die Stabilität der Lernplattform, sondern um den grundlegenden Anschluss an die Gesellschaft, um minimale Teilhabe (vgl. z. B. IW-Report 2020).

 

Mündet die Euphorie des Web 2.0 für alle in der bitteren, längst vor Corona aufgestellten These, dass statt Inklusion eher Exklusion überwiegt – als Grundsatzfrage für die Zukunft gesellschaftlicher Entwicklung? Wie funktioniert die digitalisierte Gesellschaft? Wie sollte sie gestaltet sein, um Teilhabe aller zu gewährleisten, um Prinzipien und Werte der Demokratie nicht nur abzusichern, sondern sie aktiv zu befördern?

 

Haben wir ja schon immer gesagt

Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Fachgruppe Digitale Medien und Demokratie seit Programmbeginn. Verbunden waren damit als Arbeitsauftrag von Anfang an gesellschaftspolitische Inhalte zur Digitalisierung, Fragen zu In- und Exklusion ebenso wie Tools für digital gestütztes Lernen als Gegenstand der Entwicklung und Erprobung neuer Ansätze von Lernen mit Medien über Medien. So konnte die Fachgruppe einerseits schnell auf Erfahrungen z. B. mit Videokommunikation zurückgreifen oder mit dem Einsatz von webbasierten Tools wie Kohoot-Quiz oder Mentimeter-Umfrage in Präsenzseminaren agieren. Andererseits war aus der Erfahrungen mit Onlinephasen vor, zwischen oder nach Seminaren in den Bildungsstätten leider auch die exkludierenden Elemente digitalen Lernens für die Fachgruppe nicht neu. Bekannt auch der Schmerz, statt aufgrund fehlender Stabilität von barrierefreier, datenschutzkonformer Open-Source-Software auf verlässlich laufende, kommerzielle Dienste zurückgreifen zu müssen.

 

Als Beispiel dafür steht die Entscheidung der Fachgruppenmitglieder, in Seminaren Zoom zu nutzen, das zur Verbesserung des Datenschutzes durch öffentlichen Druck gezwungen werden musste, statt Jitsi, ein unterstützenswertes, aber auch zu oft abstürzendes, technisch nicht ausgereiftes Projekt. Auch das Open-Source-Webkonferenzsystem BigBlueButton ringt, so die Erfahrung der Fachgruppe, noch immer um verlässliche Stabilität und intuitive Bedienung. Die aber ist grundlegend, um virtuell gestützte Seminare von Anfang an als positiv besetztes Lernerlebnis erfahren zu können und Internet- und Hardwareabstürze nicht als zusätzliche Frustrationsquelle zu etablieren. Im Datenschutz als Zusammentreffen eines Grundrechts und damit originären Themas von "Digitalen Medien und Demokratie" und der medienpraktischen Realität zeigt sich so sinnbildlich der Spagat für politische Bildung in diesen Zeiten. Der Umgang mit Digitalisierung muss also zu einem Kernthema politischer Bildung werden! Ein Kassandra-Ruf, der angesichts der aktuellen Lage den Fluch des Ungehörtseins noch immer nicht verloren zu haben scheint.

 

Cutting edge – der neuste heiße Schei*

Die reine 1:1 Übertragung von Lernsettings im physischen Raum auf Onlinelernangebote wurde aus den Vorerfahrungen durch die Fachgruppe verworfen, um auf die Erprobung von Netz-adäquaten, modularen Formen zu setzen. Noch Anfang März 2020 moderierten Fachgruppenmitglieder der Jugendbildungsstätte Kurt-Löwenstein, basa e. V. Bildungsstätte Alte Schule Anspach und Stiftung wannseeFORUM für die Bundeszentrale für politische Bildung/bpb auf ihrer "1. Digikonferenz. Die Zukunft in der wir leben wollen?!" in Frankfurt am Main ein BarCamp-Modul im Präsenz-Modus. Im Mai fand schon das dreitägige BarCamp politische Bildung – vom ABC Bildungs- und Tagungszentrum e. V. ausgerichtet in Kooperation mit dem Open educational ressources/OER-Camp, von der basa unterstützt und mit Teilnahme weiterer Fachgruppenmitglieder – zum ersten Mal als reines Onlineformat statt. Hier konnte zwar auch "nebenbei" die Methode als Onlinelernangebot selbst erfahren und erlernt werden, aber im Mittelpunkt standen weiterhin Inhalte zu "Digitalisierung und Demokratie": Tag 1: Schwerpunkt Inklusion, Tag 2: Schwerpunkt OER-Camp, Tag 3: Mobile (Digital) Learning & Gaming. basa e. V. stellte hier z. B. das im Text "Canvas City und die digitale Konstruktion der Wirklichkeit" beschriebene Projekt vor.

 

Politische Jugendbildung im wannseeFORUM, Foto: Andi Weiland
Politische Jugendbildung im wannseeFORUM, Foto: Andi Weiland

Erprobt wurde das Online-BarCamp-Format durch die Fachgruppe vorab als Veranstaltung mit allen Jugendbildungsreferent*innen im Programm "Politische Jugendbildung im AdB". Und auch online wurde das BarCamp-Format zum cutting-edge-Erfolgsprodukt. Dies zeigen etwa die Anfragen zur Mitarbeit von Fachgruppenmitgliedern z. B. aus dem wannseeFORUM durch Dritte für OnlineBarCamps im Bereich politische Bildung oder auch der Einsatz in Eigenseminaren wie beim BarCamp-Tag der Pfingstakademie Jugendbeteiligung, die Fortbildung Opening Spaces Online oder zahlreiche Inhouse-Schulungen, die das ABC Bildungs- und Tagungszentrum Hüll für Dritte anbot.

 

Und die Systemrelevanz?

Neues passt leider oft nicht in alte Förderrichtlinien. Der AdB legte in Rekordzeit ein Förderprogramm auf und auch die bpb war sehr schnell, um Alternativen zur Finanzierung außerschulischer politischer Bildung zu ermöglichen. Insbesondere auf Landes- und kommunaler Ebene, so die Erfahrung der Fachgruppenmitglieder, ist die Förderung von digital durchgeführten Seminaren noch immer nicht geklärt, ebenso wie die finanzielle Unterstützung, um außerschulisches Lernen durch freie Träger überhaupt anbieten zu können. Andere Fördermittelgeber*innen verlangen auch für Online-Workshops physisch unterschriebene Teilnahmelisten, die nicht leistbar sind. Spannende Möglichkeiten hier die Zusammenarbeit mit und Unterstützung von Schule für Lernen in Pandemiezeiten zu unterstützen, wurden vertan. Dies lag allerdings z. T. auch an Schulen, die trotz Überforderung wenig Interesse an Kooperationen zeigten. Systemrelevanz, so scheint es, wurde politischer Bildung nicht zugemessen.

 

Welche Rolle also spielt politische Bildung auch in Krisenzeiten? Zumindest in den Medien werden Diskussionen – auch erzwungen durch weltweite Ereignisse/Bewegungen wie black lives matter – weitergeführt. Spannende Diskussionen z. B. zu, aus diskriminierender Haltung geschriebenen, Algorithmen als Ausdruck von Rassismus, mussten und müssen in unseren Bildungsstätten warten, bis homeschooling-müde und schlecht ausgestattete Schüler*innen wieder in Bildungsstätten kommen konnten bzw. können. In 2020 waren nur ältere Jugendliche als Auszubildende oder in Freiwilligendiensten bereit und auf technischer sowie medienpraktischer Ebene in der Lage, digitale Seminarangebote anzunehmen. Der Text „Aus Präsenz mach Digital” aus der Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein (s. u.) widmet sich einem solchen Seminar.

 

Irgendwas mit Medien? Film!

Zeit für die inhaltliche Auseinandersetzung mit "Digitalen Medien und Demokratie" in Präsenzveranstaltungen blieb zwischen den Covid-19-Wellen und Lockdowns vor allem in den Sommer- und Herbstferien. So z. B. in der Begegnungsstätte Schloss Gollwitz. Im Projekt "Modern Art und Medien" setzten sich Jugendliche mit der Wirkung von sozialen Medien und daraus entstehenden Spannungsfeldern auseinander und produzierten dazu Kurzfilme. Das Mädchenwochenende "Digitales Ich – Medien & Kritik, Tools & Tipps" legte seinen Schwerpunkt auf informationelle Selbstbestimmung, Recht am eigenen Bild, die Auseinandersetzung mit Stereotypen und mündiges Handeln off- und online.

 

Im ABC Hüll ging mit ausgefeiltem Hygienekonzept die Jugendbildungsarbeit ebenfalls weiter: So konnten das Seminar "Film. Sprache. Politik." stattfinden, zwei Wochen lang an dem Film-Bildungs-Projekt "Lingua Amoris" gearbeitet werden und sogar ein deutsch-ruandischer Fachkräfteaustausch stattfinden – mit Corona-Tests, Abstand, Masken, verschobenen Flügen und viel Flexibilität beim Umgang mit sich wöchentlich ändernden Rahmenbedingungen.

 

Film ist dabei nicht erst das Medium der Stunde, sondern wird von der Fachgruppe schon von Anfang an in ihren Lernsettings genutzt. Lange vor pandemie-bedingtem Homeschooling hat sich YouTube zum Leitmedium und Alltagsort – auch für selbstbestimmtes Lernen Jugendlicher entwickelt. Aus dem Ansatz der Lebenswelt- und Handlungsorientierung heraus nutzte daher auch die außerschulische Bildung schon lange den Film als Medium für inhaltliche Auseinandersetzungen und medienpraktisches Lernen, u. a. weil Filmproduktion für Jugendliche vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten und damit – auch über Sprache hinaus – inklusive Zugänge bietet.

 

Auch deshalb arbeiten ABC Hüll und wannseeeFORUM seit 2015 im Netzwerk bewegtbildung.net mit und bringen diese Erfahrung in die Fachgruppe ein. Das interdisziplinäre Netzwerk von Akteur*innen aus den Bereichen politische Bildung, Medienpädagogik, Wissenschaft, Social Web und Webvideo, 2015 als ein gemeinsames Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb und mediale pfade.org – Verein für Medienbildung initiiert, erarbeitet seitdem aus unterschiedlichen Blickwinkeln einen Kriterienkatalog und formulierte damit aus Theorie und Praxis aller Beteiligten ein Angebot an Jugendbildner*innen und Multiplikator*innen, Webvideo in der eigenen Bildungspraxis einzusetzen. In der 2020 dazu entstandenen siebenteiligen Video-Serie kommentieren pro Video YouTube-Influencer*innen und Akteur*innen der politischen Bildung jeweils ein bis zwei der aufgestellten Kriterien. Zu "Lernzielen" und "Anschlussfähigkeit" floss so auch durch das wannseeFORUM ein Expert*innen-Kommentar aus Sicht der Fachgruppe "Digitale Medien und Demokratie" mit ein und betont den Stellenwert von Filmproduktion mit und von Jugendlichen in der politischen Jugendbildung.

 

Zoom bleibt

Leider stehen für die beteiligten Bildungsstätten weiter existenzielle Sorgen im Mittelpunkt. Ebenso ändert sich wenig an der mangelhaften Technikausstattung und Medienkompetenz bei Jugendlichen. Schulen sind als Kooperationspartner bei digitalen Lernformaten weiter zögerlich. Mit schwierigen Förderbedingungen sowie Kurzarbeit bei Fachgruppenmitgliedern beginnt auch 2021.

 

Gleichzeitig gehen die Videokonferenzen auch in der politischen Bildung weiter. Noch immer besteht Bedarf bei politischen Bildner*innen und Multiplikator*innen, sich über digital gestützte Lernformate der außerschulischen Bildung auszutauschen und fortzubilden. Noch immer lernen Menschen jeden Alters privat und im schulischen/beruflichen Kontext am liebsten spielerisch: Im Corona-Jahr boomt die Spielebranche bei digitalen wie bei Brett- und Kartenspielen. U. a. Escape-Rooms sind off- und online sehr beliebt. In der Fachgruppe entstand so zum Ende des Jahres 2020 die Idee, ein Lernsetting zu entwickeln, das – über die Krise hinaus – webbasiertes und offline Lernen mit Inhalten zur Digitalisierung von Gesellschaft verbindet. Mit dem Projektvorhaben geht die Fachgruppe ins zweite Pandemie-Jahr und richtet #trotzallem ihren Blick konstruktiv auch auf Chancen, die sich für die inhaltliche Auseinandersetzung mit "Digitalen Medien und Demokratie" und neue Lernformen bieten – verbunden damit ist die Hoffnung ebenso wie das Engagement der Fachgruppe, die Coronakrise nicht nur als Sichtbarmacher unzähliger Defizite zu begreifen, sondern als Verstärker, diese produktiv zu bearbeiten für eine konstruktive und wirksame Auseinandersetzung mit Digitalisierung.

 

Drei Fragen an … Lena und Flo

Lena und Flo sind freiberuflich und Teil des Kollektivs stuhlkreis_revolte, einem Zusammenschluss aus Moderator*innen, die neben- und hauptberuflich Bildungsprozesse begleiten, d. h. selbst Seminare organisieren, aber auch Gruppen bei der Durchführung von Workshops, internen Weiterbildungen, Teamtagen usw. unterstützen. Sie sind auch Kooperationspartner von Fachgruppenmitgliedern.

 

Welche Rolle haben Freiberufler*innen in der politischen Bildung?

Lena und Flo: Nach unserer Erfahrung wird politische Bildung zu einem sehr großen Teil von Freiberuflichen gestaltet. Projektwochen an Schulen, Seminare in Bildungshäusern, Weiterbildungen für Kolleg*innen; oft werden diese von Menschen mit Honorarvertrag (leider manchmal auch Werkvertrag) umgesetzt. Hinzu kommen unzählige Bildungsinitiativen und Themennetzwerke, deren Mitglieder ihre Arbeit darin freiberuflich organisieren (müssen). Freie sind also für einen großen Teil der praktischen politischen Bildungsangebote mit den Teilnehmenden verantwortlich.

 

In unserer Wahrnehmung geht unsere Rolle aber noch darüber hinaus. Häufig werden Seminarthemen von uns selbst ausgestaltet und vorbereitet. Und in Kontexten in denen Seminarhäuser oder Netzwerke standardisierte Angebote vorgeben, sind freiberufliche Bildner*innen oft in die Erarbeitung und Weiterentwicklung der Formate involviert.

 

Und viele von uns verbringen nicht wenig Zeit mit dem Besuch von Netzwerkveranstaltungen oder Kongressen und der informellen Kontaktpflege zu Träger*innen und Kooperationspartner*innen. Uns passiert es nicht selten, dass aus diesen Gelegenheiten zum Austausch die Ideen für neue Seminare, Reader oder Methoden entstehen. Was uns natürlich freut, schließlich liegt uns unsere Arbeit und die politische Bildung am Herzen; wir wollen an dieser Stelle aber auch darauf hinweisen, dass dies in der Regel für uns unbezahlte Arbeit ist.

 

Was wusstet ihr schon immer, (dass es geht) und es brauchte erst die Corona-Krise, damit dies bei allen ankommt?

Lena und Flo: Freiberuflich in der politischen Bildung tätig zu sein ist prekär. Das ist hoffentlich keine neue Erkenntnis. Für viele Freie ist müßiges Verhandeln um jeden Euro Honorar, immer wieder darauf hinweisen, dass es eigentlich nicht ok ist, den Honorarvertrag erst auf oder nach der Veranstaltung zu bekommen und ständige Unsicherheit, ob nächsten Monat genug Aufträge reinkommen, gewohnte Lebensrealität. Diese Unsicherheit wurde durch die Pandemie und das Wegfallen vieler Aufträge natürlich größer. Viele von unseren Kolleg*innen haben im vergangenen Jahr Schulden aufnehmen müssen oder waren gezwungen, ihre Arbeit in der politischen Bildung ganz aufzugeben.

 

Es gab aber auch positive Erfahrungen. Zur Absage-Welle im März 2020 wurden wir von vielen unserer Auftraggebenden sehr positiv überrascht. Sie riefen uns von sich aus an, fragten, wie schlimm die Situation sei und haben versucht mit uns Lösungen zu finden. Vom Bezahlen der bereits geleisteten Vorbereitungsarbeit über Zahlen von Ausfallhonoraren und Zusicherung zur Durchführung eines Ersatztermins im Herbst bis hin zu Auszahlung des geplanten Honorars, weil es irgendwie möglich war und verstanden wurde, dass Freiberufliche nicht in Kurzarbeit gehen können, sondern unser Einkommen von heute auf morgen auf null Euro im Monat gesunken war. Einige Träger haben verstanden, dass, wenn sie ihren Druck an uns Freie weiterreichen und wir unsere Existenzgrundlage verlieren, in Zukunft eventuell niemand mehr da ist, um ihre Projekte umzusetzen. Wir hoffen, dass diese kollegiale Perspektive auch nach Corona erhalten bleibt und es normal wird, Freie nicht nur als Dienstleister*innen zu sehen, sondern als Kolleg*innen, deren prekäre Arbeitsbedingungen alle etwas angehen.

 

Der Wechsel zum digitalen Arbeiten war für alle eine Herausforderung und wurde von Beginn an breit diskutiert. Deswegen wollen wir hier nur kurz auf zwei Punkte eingehen, die uns wichtig sind und die wir in der Diskussion zu selten wahrnehmen: Zum einen haben digitale Angebote es ermöglicht, Teilnehmende in unseren Seminaren zu sehen, die bisher mit politischer Bildung wenig erreicht wurden. Sei es, weil der Computer barriereärmer ist als die Seminarhäuser, in denen wir sonst sind. Oder weil ein Freitagnachmittag von zuhause besser mit den Anforderungen und Verpflichtungen des eigenen Lebens vereinbar ist, als ein Wochenende zu einem Seminar am anderen Ende der Republik zu fahren. Hier sehen wir eine Entwicklung, von der wir uns wünschen, das sie bleibt und zu einem breiteren Diskurs um die Zugänglichkeit politischer Bildung wird.

 

Zum anderen sehen wir ähnliche Ausschlüsse, die auch davor schon da waren. Auch wenn Online-Seminare kostenfrei angeboten werden, kostet der Zugang Geld. Menschen brauchen die technische Ausstattung um teilnehmen zu können, sie brauchen einen ruhigen Ort, von dem aus sie teilnehmen können. Das ist nicht für alle Menschen gegeben. Hierfür braucht es Lösungen. Vereinzelt haben wir es mitbekommen, dass Schulen allen Schüler*innen Geräte und Einzelräume zur Verfügung stellen konnten oder Träger Leihlaptops an Teilnehmende verschickt haben. Vielleicht kann hier eine Parallele zu Fahrtkostenübernahme entstehen, die für Menschen Zugang schafft.

 

Insgesamt können wir uns gut vorstellen, dass ein Teil des Online-Arbeitens auch nach der Pandemie bleibt. Es bringt viele Chancen und Möglichkeiten mit sich. Ehrlicherweise wollen wir aber auch die Grenzen, die wir erlebt haben, benennen: Austauschformate, das Anbieten von Wissen und Diskussion sind durchaus gut online zu machen. Wo wir immer wieder an Grenzen gestoßen sind, sind Angebote im Bereich Empowerment. Wir wissen nicht genau woran es liegt, aber hier sehen wir etwas, das mit unseren bisherigen Ideen und Ansätzen online nicht wirklich zu ersetzen ist. Viele Teilnehmenden haben uns nach Online-Seminaren zu Empowerment-Themen zurückgemeldet "dass der Funke irgendwie nicht übergesprungen ist" und "dass das schon nett war, aber dann mache ich meinen Laptop zu und fühle mich doch wieder allein!" Diese Eindrücke teilen wir. Und Empowerment ist ein so wichtiger Teil der politischen Bildung.

 

Wir freuen uns, wenn digitales Arbeiten als Möglichkeit erhalten bleibt. Wir freuen uns noch mehr, wenn Auftraggebende auf uns zukommen und mit uns gemeinsam anhand ihrer Ziele das passende Format finden. Und wir hoffen, dass dieses gemeinsame Entscheiden auch nach der Pandemie so bleibt.

 

Welche drei Dinge sollten für die politische Bildung nach der Coronazeit bleiben, die sie besser macht?

Lena und Flo: Wir können nicht genau sagen, ob diese Dinge schon überall "da" sind. Aber wir haben sie erlebt und wünschen uns mehr davon:

  • Aushandlungen zwischen Freien und Träger*innen auf Augenhöhe, welche mit einbeziehen, dass es möglich sein muss, davon zu leben ohne ständig Existenzängste haben zu müssen! Es muss zur Normalität werden, dass Arbeitsbedingungen gemeinsam und miteinander verhandelt werden, dass Bildungshäuser nicht einfach Honorar und Vertragsbedingungen vorgeben und uns nur "take it or leave it" bleibt.
  • Zu politischer Bildung gehört es für uns auch, klare Kante gegen Rechtspopulismus zu zeigen. Mit Corona-Leugner*innen hat diese Strömung aktuell ein weiteres Bild bekommen. Egal in welcher Form auch immer, wir gehen leider davon aus, dass autoritäre und antidemokratische Einstellungen sich weiterverbreiten. Für die politische Bildung wünschen wir uns zum einen stärkeren Austausch darüber, wie wir damit umgehen, wenn Menschen diese Positionen in unseren Angeboten vertreten. Zum anderen wünschen wir uns von unseren Auftraggebenden Rückendeckung, wenn wir diesen Positionen mit einem klaren "Stopp" oder in krassen Fällen auch mit Ausschluss begegnen.
  • Wir wünschen uns, dass Austausch und Solidarität bleiben und zunehmen!

Hier wollen wir auch noch kurz auf Netzwerke hinweisen, die dazu in den letzten Jahren entstanden sind: In Berlin organisieren sich seit einiger Zeit Festangestellte und Freiberufliche aus der Bildungsarbeit gemeinsam in der Kampagne "Für die gute Sache! Aber zu welchem Preis?", in der daraus entstanden Gruppe "Solo, aber nicht allein – Initiative selbstständiger Bildungsarbeiter*innen" organisieren sich Kolleg*innen bundesweit, im Oktober gab es das erstes bundesweite Vernetzungstreffen "MACHT Strukturen", Kolleg*innen der Museen- und Gedenkstättenarbeit organisieren sich im Netzwerk "Geschichte wird gemacht" und immer mehr Hausteams bilden eigene Interessensvertretungen.

 

 

Bericht aus der Praxis

Aus Präsenz mach Digital!

Über die Erfahrungen mit dem pandemiebedingten Umstieg auf Online-Formate, Herausforderungen und Chancen von digitalen Seminarangeboten.

Aus Präsenz mach Digital!   Foto: Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein
Aus Präsenz mach Digital! Foto: Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein

Ein Smartphone reicht

Bedingt durch die äußeren Umstände der Verordnung zur Eindämmung der Corona-Pandemie hat sich der Fokus auf die Idee der Umsetzung von Online-Seminaren im Frühjahr des Jahres 2020 zwangsweise verstärkt. Diese waren vor allem mit jungen Erwachsenen möglich, die im Rahmen ihrer jeweiligen Ausbildung oder Weiterbildung gern an einer Veranstaltung teilnehmen wollten, die ohnehin geplant war, und die über die notwendige technische Ausstattung verfügten. In einigen Fällen konnten wir dank unserer eigenen Ausstattung aushelfen und einzelne Geräte für den Gebrauch bei unseren Veranstaltungen verleihen. Mutig probierten sich die Auszubildenden aus dem pädagogischen Bereich von Fachschulen und Universitäten aus, die plötzlich in der Methodenschulung „Digitalisierung erfahrbar machen“ die Digitalisierung selbst erfuhren.

 

Die Teilnehmenden konnten über Computer, Laptop, Tablet oder zum Teil Smartphone an den Online-Seminaren teilnehmen. Die Möglichkeit über Smartphone zwischenzeitlich mindestens akustisch an den Veranstaltungen teilzunehmen, ermöglichte es einigen Personen Diskussionen zu folgen und sich zugleich den eigenen Kindern zu Hause zu widmen oder auf dem Spielplatz auf die kleineren Geschwister aufzupassen, deren Schulen ebenfalls geschlossen waren.

 

Per aspera ad astra – Durch Mühsal gelangt man zu den Sternen

Aufbauend auf unseren Erfahrungen im E-Learning-Bereich und der Arbeit mit dem Themenbereich Digitalisierung konnten Online-Alternativen für Seminare entwickelt werden. Diese mussten aufgrund erneuter Corona-Regeln zum Teil sehr kurzfristig entstehen. Hierbei wurden die didaktischen Prinzipien, uns an unseren Zielgruppen und ihren Interessen, Erfahrungen und Lebenswelten zu orientieren, wie gewohnt beibehalten. Viele Methoden, die wir in Präsenzveranstaltungen nutzen, seien es Methoden zu biographischen Bezügen, Meinungsbarometer oder Rollenspiele, ließen sich auch in Online-Seminaren erstaunlich gut umsetzen. Hierbei war eine Nutzung von Videokameras, falls vorhanden, sehr hilfreich, um den menschlichen Bezug beizubehalten und nicht nur als Namenskachel in einer Namenskachelsammlung unterzugehen. Zum anderen wurden auf Whiteboards und in Kollaborationstools virtuelle Sitzkreise oder Aufstellungen gebildet, um zumindest als Avatare gemeinsam in einem virtuellen Raum zu sein. Wichtigstes Werkzeug war stets die Interaktionsmöglichkeit, sei es in einem Kollaborationstool oder im Chat, in dem das Seminar durch persönliche Anmerkungen, Tipps und Links ergänzt wurde.

 

Wir haben uns nach langer Recherche und nach vielen Diskussionen für die Plattform Zoom entschieden – nachdem diese ihre Sicherheitsvorkehrungen entsprechend der europäischen Datenschutzrichtlinien angepasst hat. Grund für die Entscheidung war, dass Zoom für viele Teilnehmende eine intuitiv zu bedienende Oberfläche anbietet und über viele Funktionen verfügt, die sowohl bei Interaktionen als auch Methoden hilfreich sind. Grundlegend wurde trotz aller vermeintlicher Simplizität von Programmen klar, dass es immer Personen mit technischen Schwierigkeiten gibt, denen mittels paralleler Chat- oder Telefonhilfe Zugang und Teilhabe am Seminar verschafft werden musste. Mikrofonkonfiguration und andere Einstellungsfragen mussten erklärt werden. Oder es waren einfach beruhigende Worte notwendig, weil Windows plötzlich ein Update durchführte. Diese Erfahrungen haben dazu geführt, dass in allen Folgeveranstaltungen Testdurchläufe durchgeführt und Vorlaufzeit zum Ausprobieren der Technik eingeplant wird, um allen die Teilnahme zu ermöglichen.

 

Im Zentrum der Veranstaltungen lag die Auseinandersetzung mit dem eigenen Mediennutzungsverhalten und populistischen sowie diskriminierenden Phänomenen und demokratiefeindlichen Einstellungen im digitalen Raum. Anhand der eigenen Nutzung von Internet, Smartphones und Apps wurden Datensicherheit, digitale Identität und Algorithmen thematisiert, die eine starke Auswirkung auf die Wahrnehmung von gesellschaftlichen Diskursen und somit auch auf die Wahrnehmung politischer Inhalte haben. Zum Beispiel wurden in Kleingruppen Fake News untersucht, auf "Quellenjagd" gegangen und Möglichkeiten vorgestellt, Quellenkritik zu üben und Webseiten zu nutzen, die sich Fake News und Verschwörungserzählungen annehmen.

 

Durch Rollenspiele in Zoom in Kleingruppen (sogenannten Breakout-Sessions) konnten die Auszubildenden im pädagogischen Bereich die Gefahr selbstreferentieller digitaler Räume ("Filter Bubbles") erfahren und wir konnten verdeutlichen, wie wichtig die eigene Meinungsäußerung ist, um nicht einer lautstarken Minderheit den öffentlichen Raum zu überlassen, die sich hauptsächlich fremdenfeindlich äußert. Im gleichen Zuge haben wir Möglichkeiten von Counter-Speech (die Bearbeitung von Hate Speech), u. a. Moderation, Hinterfragen oder Karikieren vorgestellt. Uns war es wichtig, dass die Teilnehmenden die Notwendigkeit einer demokratischen Haltung in sozialen Medien verstanden, zugleich aber Möglichkeiten der Selbstwirksamkeit kennenlernten, die sie für sich nutzen konnten, aber ebenfalls an ihre zukünftige Zielgruppe weitergeben können.

 

Die Teilnehmenden konnten online an Projekten und Produkten arbeiten, wie wir es auch bei Präsenzveranstaltungen tun. Hierbei konnten die inhaltlichen Themen mit einem kreativen, medialen und handwerklichen Lernprozess verbunden werden, der selbst gesteuert und praxisbezogen Beteiligung, Aushandeln, Kooperation und Kommunikation erfahren ließ. Dabei konnten einige Angebote wie z. B. das Programmieren mit Scratch oder digitale Selbstverteidigung besonders aufblühen, da sie eine aktuelle Brisanz besaßen oder sich für die digitale Weiterarbeit mit der eigenen Zielgruppe eignen, mit der die Auszubildenden und Studierenden möglicherweise später arbeiten. Auch das Programm "Bookcreator" wurde neben Padlet schnell beliebt, um sich gegenseitig Wissenssammlungen kreativ zu präsentieren. Es wurde viel erprobt, aber auch viel erlebt. Im Seminar "(Netz-)Gesellschaft ohne Hasskultur" konnte live auf Verschwörungserzählungen rund um Corona und Falschnachrichten eingegangen werden, die wie oben beschrieben, behandelt wurden, aber eine tagesaktuelle Brisanz besaßen. Insgesamt waren die Teilnehmenden erstaunt, wie mit interaktiven Methoden Online-Veranstaltungen spannend gestaltet werden können und nahmen viele Methoden für ihre eigene Arbeit mit.

 

Die Stärken und Schwächen des Digitalen: Eigentlich nichts Neues, aber trotzdem was Neues

Für viele Teilnehmende waren die von uns angebotenen Online-Veranstaltungen die erste Erfahrung mit Videokonferenzen und länger andauernder Online-Arbeit. Wir konnten feststellen, dass eine anfängliche Klärung der besonderen Umstände von Online-Kommunikation hilfreich war, damit die Teilnehmenden sich wohlfühlten, indem sie z. B. ihr eigenes Bild ausstellen konnten, alle oder wenige Personen gleichzeitig sehen konnten oder gänzlich auf Bilder verzichteten. Besonders bei Personen mit Kamerascheu, ADHS oder Hypersensibilität haben diese Einstellungsmöglichkeiten entsprechend ihrer Vorlieben zu einem größeren Wohlbefinden geführt.

 

Schnell war zu merken, dass viele Teilnehmende es nicht gewohnt waren, lang an Bildschirmen zu arbeiten. Hier mussten Methoden einbezogen werden, die die Teilnehmenden zu Bewegung und Erkundung der eigenen Umwelt animierten. U. a. begaben die Teilnehmenden sich auf historische Spuren in ihrem Kiez oder dokumentierten Auffälligkeiten entsprechend einer Aufgabenstellung zu Themengebieten von Fake News und digitaler Vernetzung im Alltag. Der Einbezug des eigenen Smartphones, mit dem Ergebnisse zu einem digitalen Whiteboard oder Padlet hochgeladen werden konnten, bereicherten parallel zur inhaltlichen Auseinandersetzung die technischen Kompetenzen der Teilnehmenden.

 

Mit Hilfe von Padlet und anderen Whiteboard-Werkzeugen konnten viele Methoden adaptiert werden. Später wurden auch eigene Warm-Ups und Methoden entwickelt, die in Online-Fortbildungen weitergegeben wurden und über die reine Adaption hinausgehen. Z. B. haben sich Auswertungen bewehrt, bei denen die Teilnehmenden Memes erstellen, die ohnehin Teil des Online-Lebens sind oder Kommentare schreiben, was auch aus sozialen Medien bekannt ist.

 

Die gesammelten Kenntnisse ermöglichen eine Weiterarbeit mit Online-Veranstaltungen als Bildungsformat über die "Coronajahre" hinaus, bei denen Gefahren und Chancen der Digitalisierung sehr direkt erfahrbar gemacht werden können und gleichzeitig zu mehr Kollaboration und positiver Kommunikation im digitalen Raum ermutigt werden kann.

 

Marc Rüdiger, Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein e. V.
Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein e. V.

 

 

Bericht aus der Praxis

Canvas City und die digitale Konstruktion der Wirklichkeit

Canvas City in Game, Foto: basa e. V.
Canvas City in Game, Foto: basa e. V.

Medien haben (schon lange) keine reine vermittelnde Funktion mehr, vielmehr sind sie gesellschafts- und subjektkonstituierend: In ihrer Nutzung entstehen sie und mit ihr die soziale Wirklichkeit. Medien schaffen im Moment ihres Erscheinens etwas Neues, bei dem sie im Entstehen ihren mittelnden Charakter verlieren – ein paradoxes Verhältnis. So wie Videokonferenztools wie Zoom nicht nur eine audiovisuelle Verbindung zwischen Personen herstellen, sondern gänzlich andere Arbeitsweisen und -verhältnisse hervorbringt, ändert allgemein gesprochen Digitalisierung nicht nur die Art und Weise, wie wir Medialität denken können. Das für das alte Web 2.0 so prototypische Entstehen von medialen Inhalten vor, während und durch die Nutzung wird ersetzt durch eine sozial erweiterte Realität, in der Technologie nicht ein Add-on ist, sondern die Grundlage der Erfahrung und Konstruktion sozialer Wirklichkeit. Medien sind in diesen Zeiten digitaler Transformationsprozesse selbst spezifische Denk-, Handlungs- und Artikulationsform. In Konsequenz leben wir die digitale Konstruktion einer/unserer/vieler Wirklichkeit(en).

 

Was stellen wir mit dieser Erkenntnis in der politischen Bildung an? Man kann versuchen, das Mediale einzuhegen und Privatsphäre-Einstellungen zu diskutieren. Oder man kann versuchen, die dahinterliegende Technologie zu durchdringen und jenseits medialer Wirklichkeit den Kern des Digitalen und ihrer spezifischen Technologien zu verstehen. Beides verbleibt entweder an der Oberfläche oder scheitert an der Komplexität der Gegenstände. Um diese ebenso abstrakten, wie komplexen Themen besprechbar zu machen hat basa e. V. in Zusammenarbeit mit medialepfade.de das Spiel Canvas City entwickelt.

 

Canvas City ist ein mobiles, geodatenbasiertes AR-Multiplayerspiel für den Bildungsbereich. Das Spiel wird als geschlossene Session innerhalb von rund vier Stunden mit bis zu 30 gleichzeitigen Spieler*innen auf demselben Spielfeld (im öffentlichen Raum) gespielt. Es soll innerhalb von Veranstaltungen der außerschulischen Jugendbildung gespielt werden und richtet sich an junge Menschen zwischen 14 und 27 Jahren.

 

Der Begriff "Augmented Reality" oder kurz AR bezeichnet eine aktuelle technologische Entwicklung, bei der das Live-Kamerabild um zusätzliche Informationen ergänzt wird. Wir sehen etwa über das Display eines Handys oder Tablets das Livebild der Kamera. In dieses Livebild werden über eine Software/App im Gerät nun in Echtzeit computergenerierte und animierte Bilder eingefügt, und zwar so, als befänden sie sich wie Objekte im Zimmer vor der Kamera. Bekannte Beispiele sind etwa Pokemon Go oder die Ikea Place App.

 

Canvas City setzt auf AR, weil durch diese Technologie Möglichkeits- und Erfahrungsräume eröffnet werden, die jenseits realer Objekte und materieller Wirklichkeit liegen. Imaginäres, Außergewöhnliches, Nicht-Existentes oder Nicht-Zugängliches kann erfahrbar gemacht werden. Alles, was sich bildlich darstellen und imaginieren lässt, kann der erweiterten Realität auch hinzugefügt werden. Wo sonst können Künstliche Intelligenzen als Avatare durch den Park schweben? Indem die Realität digital überformt und quasi überschrieben wird, können auch abstrakte Bildungsinhalte wie Digitalisierung erfahrbar und besprechbar werden. Die Spielenden können in der AR-Welt von Canvas City Dinge platzieren, ausprobieren und manipulieren. Canvas City ist ein pädagogischer Raum, der im Rahmen eines Spiels zu Bildungszwecken Probehandeln im Kontext technologievermittelter, gesellschaftlicher Dilemmata ermöglicht.

 

Alle Spieler*innen spielen mit einem eigenen Tablet. Sie werden dabei eingeladen, an der Welt von Canvas City teilzunehmen. Sie sind Bewohner*innen dieser imaginierten Stadt, arbeiten in den Fabriken von Canvas City und stecken Prozessoren zusammen. Wegen ihrer guten Leistung werden sie eingeladen, noch mehr für die zentrale künstliche Intelligenz, die die Stadt steuert, zu machen. Ihre Mission ist es, neue Datenquellen zu erschließen. Gerade erst haben sie ihre neue Arbeit aufgenommen, da kommen andere künstliche Intelligenzen ins Spiel und stellen den Sinn dieser Tätigkeit in Frage. Die Spieler*innen müssen sich mehrfach entscheiden für wen und mit wem sie arbeiten und positionieren sich so auch zu anderen komplexeren Fragen der Digitalisierung.

 

Durch das Spiel wird es im Anschluss möglich, über abstrakte Themen, wie algorithmische Entscheidungsfindung, Smart City, neue Arbeitsmodelle der Digitalisierung und ethische Fragen der Beziehung zwischen Menschen und künstlichen Intelligenzen zu sprechen.

 

Die Frage "… ob Digitalisierung?" ist schon lange entschieden, wohl aber können und müssen jetzt die Diskussionen geführt werden, wie die emanzipatorischen und demokratisierenden Potenziale gestärkt werden können. Unseres Erachtens nach ist es für die Fragen von Technikfolgen nicht zentral, jedes technische Detail einer technologischen Neuerung verstanden zu haben oder ausschließlich die eigenen Nutzungskompetenzen auszubauen. Vielmehr ist es von Bedeutung, das Gewachsen- und Eingebettet-Sein in gesellschaftspolitische Verhältnisse zu erkennen. Technologien beraten uns in ihrem kommunikativen und interaktiven Charakter nicht nur hinsichtlich des nächsten Einkaufs oder erfassen unsere Kalorienverbrennung. Technologien "schaffen nicht nur einen interpretatorischen Rahmen der Ausdeutung eines bestimmten Verhaltens, sondern etablieren einen technisch determinierten Referenz- und Präferenzrahmen, in den hinein wir uns mit unserem Leben entwerfen" (Reichert 2013, S. 64). In diesem Sinne ist Canvas City ein Projekt, das die Diskussion um neue und zukünftige Technologien politisieren und spielerisch in gesellschaftliche und demokratische Zusammenhänge einbinden möchte. Gespielt haben wir wegen Corona bisher nur mit Testpersonen aus dem Feld von Multiplikator*innen, aber das soll sich ändern, sobald es die Pandemie zulässt.

 

Anna Krämer, basa e. V. Bildungsstätte Alte Schule Anspach
www.basa.de

 

Literatur

IW-Report (2020): Häusliches Umfeld in der Krise: Ein Teil der Kinder braucht mehr Unterstützung – Ergebnisse einer Auswertung des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP)

Reicherts, Ramón (2014): Die Macht der Vielen. Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung. Bielefeld: transkript Verlag

 

Zugriff auf alle in dieser Publikation benannten Internetquellen: 15.02.2021.

 

Mitglieder der Fachgruppe „Digitale Medien und Demokratie“

Annika Hempel
Stiftung Begegnungsstätte Gollwitz
Email: hempel@stiftunggollwitz.de

 

Dr. Anna Krämer
basa e. V. Bildungsstätte Alte Schule Anspach
Email: anna.kraemer@basa.de

 

Marc Rüdiger
Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein e. V.
Email: m.ruediger@kurt-loewenstein.de

 

Annette Ullrich
Stiftung wannseeFORUM
Email: ullrich@wannseeforum.de

 

Henning Wötzel-Herber
ABC Bildungs- und Tagungszentrum e. V.
Email: hwh@abc-huell.de