Bildung is‘ uncool oder was?
Ziel der Zentralen Arbeitstagung (ZAT) war es, die Auseinandersetzung der Jugendbildungsreferent*innen mit diskriminierungskritischen Perspektiven in Bezug auf die eigene Arbeit zu erweitern. Verschiedene Aktivitäten zur Thematisierung von Machtunterschieden, Strategien des "Otherings", dem Verhältnis von Mehrheiten und Minderheiten sowie zur selbstkritischen Auseinandersetzung mit Privilegien mündeten in einem Workshop mit der Erziehungswissenschaftlerin und Aktivistin in der Black Community Aretha Schwarzbach-Apithy. Sie fokussierte in ihrem Workshop den Wert oder auch das Privileg von "Bildung". Die Irritation bei den Teilnehmenden erfolgte prompt: Aretha Schwarzbach-Apithy sprach von gemeinhin "rassistischer Bildung".
Bildung gilt in der Regel als Zugangsvoraussetzung, um überhaupt am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Bildung schützt angeblich vor Armut. Das Recht auf Bildung ist eine zentrale Kategorie der Kinder- und Menschenrechte und wird immer wieder eingefordert, ist es doch trotz langer sozialer Kämpfe nicht für alle Menschen umgesetzt. Bildung gilt als Schlüssel zur Emanzipation und damit auch zur Befreiung aus den Ketten der Sklaverei, wie es z. B. auf der Website der österreichischen "Entwicklungshilfeklubs" dargestellt ist. Gibt es daran etwas zu kritisieren? Es ist doch gut, wenn das Recht auf Bildung endlich global umgesetzt werden würde, nicht wahr? Dass, was eben landauf, landab als anstrebenswert beschrieben wird, soll rassistisch sein? Wie jetzt?
Durch eine Reihe von Beispielen machte Aretha Schwarzbach-Apithy schnell deutlich, dass die Bildung, wie sie mehrheitlich verstanden wird, schon aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte aus der Aufklärung heraus strukturell stark von Rassismen durchdrungen ist, diese reproduziert und unkritisch verfestigt. Sie führte aus, dass rassistisches Denken funktioniert und funktioniert hat durch die Unterteilung von Menschen, die Bildung erfahren können bzw. konnten und eben jenen, die dies angeblich nicht können. Auf den Philosophen Immanuel Kant gehe ein Ordnungssystem zurück, in dem Mitteleuropäer*innen auf der höchsten Stufe der "Bildungsfähigkeit" stehen, während andere Menschen daran gemessen herabgesetzt wurden bzw. werden.
Bereits in Vorgesprächen zum Workshop stellte die Referentin klar, dass es nicht reicht, den Räumen eine neue Farbe zu geben, d. h. das klassische Bildungsverständnis ein wenig zu reformieren. Nein, Bildung müsse vom Fundament her neu gedacht werden, um im architektonischen Rahmen zu bleiben.
Rumms, das saß! Wer nun denkt, es handle sich um Einzelmeinungen im Sinne einer "Critical Whiteness Kampagne", der*die muss enttäuscht werden. Ob nun das Domradio zu Köln (vgl. Gepp 2020) oder auch eine wissenschaftliche Abhandlung innerhalb des von Schwarzbach-Apithy kritisierten Bildungssystems – beide gehen in die gleiche Richtung: Immanuel Kant war ein Rassist, die Würde des Menschen galt nicht für alle Menschen und der von Kant generierte Bildungsbegriff diente dabei als Ausgrenzungsschablone (vgl. Hong 2011). Dieses kritische Hinterfragen von "klassischer Bildung" als Wert finde nicht statt, so die Meinung der Referentin.
Es war ein intensiver und selbstkritischer Beginn und Impuls zum Anfang eines – wie es sich bald herausstellte – ungewöhnlichen Jahres! Zu allem was hier benannt wurde, verhält sich die Pandemie wie ein Brennglas, das diskriminierende Strukturen und Denkweisen neu entfacht und aus dem Unsichtbaren hervortreten lässt. Der Workshop von Aretha Schwarzbach-Apithy bot für die kommende Entwicklung ein wichtiges Analyseinstrument. Er legte eine Reihe von wichtigen Erkenntnissen im Bereich Rassismus und Diskriminierung offen, zu denen die vorhandenen Strukturen und Denkarten im Alltag – bewusst und unbewusst – beitragen.
Rassistische Diskurse in der "epidemischen Notlage" erkennen und diesen begegnen
In den Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, mit denen sich die Fachgruppe inhaltlich beschäftigt, gab und gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass auch während der Pandemie und im Lockdown Rassismus, Antisemitismus, Diskriminierungen keineswegs in den Hintergrund treten. Vielmehr bildet sich hier auf sehr konkrete Weise ab, was unter dem Konzept des "Othering" – des "Fremd-Machens" – zu verstehen ist: Der "Konstruktion des Anderen", das als nichtzugehörig und abweichend von der Dominanzkultur kategorisiert, abgewertet und abgeurteilt wird (vgl. Institute for Art Education 0. J.). Dies betraf insbesondere BIPoC (Black, Indigenous, People of Color), asiatisch gelesene Menschen, Jüdinnen/Juden, Geflüchtete und Menschen mit Migrationsbiografien. Sie alle wurden und werden in unterschiedlichen Kontexten verdächtigt oder beschuldigt, zur Verbreitung der Pandemie beizutragen. Die Diskriminierungsdiskurse fanden keineswegs jenseits der Öffentlichkeit im Verborgenden statt, wie eine Kolumne von Martin Klingst bei Zeit-Online vom 25.05.2020 verdeutlicht: Nicht die sozialen Umstände und strukturellen Gegebenheit wurden kritisch in Bezug auf das Pandemiegeschehen hinterfragt, sondern einzelne Menschen bzw. konstruierte Gruppen wurden verantwortlich gemacht (vgl. Klingst 2020).
Wir zeigen im Folgenden an einigen weiteren ausgewählten Beispielen, wie deutlich die Zusammenhänge zwischen gelesener Herkunft und Diskriminierungen im Kontext von Corona angenommen und insbesondere von Medien- und Politikvertreter*innen, frei nach oben erwähntem Kant’schen Ordnungssystem, wiederholt reproduziert wurden.
Zuallererst und bereits vor Ausbruch der Pandemie in Deutschland bekamen ostasiatisch gelesene Menschen rassistische Anfeindungen zu spüren. So verwiesen Amnesty International sowie die (post)migrantische Selbstorganisation "korientation" im Frühjahr 2020 auf ihren Webseiten darauf, dass das Ausmaß an verbaler und körperlicher Gewalt seit Ausbruch der Pandemie gegenüber ostasiatisch gelesenen Menschen um ein Vielfaches zugenommen hat. Dies reiche von Beleidigungsrufen, über offensichtliche körperliche Distanzierungen, bis hin zu massiven Bedrohungen und Angriffen.
Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes bestätigt diese Angaben in einer Veröffentlichung zu "Diskriminierungserfahrungen im Zusammenhang mit der Corona-Krise" und ergänzt Fälle von institutionellem Rassismus, z. B. durch racial profiling (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2020, S. 3). "Das Coronavirus enthüllt Ressentiments, die eigentlich überwunden schienen – aber offenbar tief verankert sind." So resümiert ebenfalls die freie Autorin Kim Ly Lam im digitalen und von der Hochschule für angewandte Wissenschaften verantworteten Stadtmagazin Fink.Hamburg (Ly Lam 2020).