“Demokratie
braucht
politische Bildung”

Polyphon! Diversität in der politischen Bildung stärken

Abschluss des AdB-Modellprojekts zur Weiterentwicklung politischer Bildung in einer pluralen Gesellschaft
AdB-Projekte in Bundesprogrammen

Im September 2019 startete das Projekt „Polyphon! Diversität in der politischen Bildung stärken“, das der AdB, gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, durchführte, um sich mit Diversifizierungsstrategien im Verband und in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung auseinanderzusetzen. Es ging um die Frage, welcher Veränderungen es in Organisationen der non-formalen Bildung bedarf, um einer heterogenen Gesellschaft gerecht zu werden. Das Projekt wurde im Juni 2022 mit einer Fachtagung abgeschlossen.

Foto: zettberlin/photocase

Der AdB hatte sich um die Förderung für dieses Projekt beworben, weil ein kritischer Blick nach innen gezeigt hat, dass weder der Verband selbst noch die Mitgliedseinrichtungen in ausreichendem Maße die gesellschaftliche Vielfalt widerspiegeln. Zwar erreichen die Mitgliedseinrichtungen auch marginalisierte Zielgruppen und beziehen wenig gehörte Perspektiven in ihre Bildungsarbeit mit ein, die Quantität dessen stellte sich aber als deutlich ausbaufähig dar. Und auch im Hinblick auf Strukturen, auf Personal, auf Kooperationspartner bestand erheblicher Entwicklungsbedarf. Mit dem Projekt sollten Erkenntnisse gewonnen werden, wie die Bedarfe vor Ort aussehen, welche Entwicklungspotenziale vorhanden sind, welche (neuen) Ansprechpartner*innen eingebunden werden können. Mit den gesammelten Erkenntnissen und Erfahrungen sollte die Entwicklung hin zu mehr Diversität unterstützt und angeschoben werden, um damit einen Beitrag zur Modernisierung und zum Ausbau der Trägerstrukturen zu leisten.

 

Zum anderen ging es – mit dem ersten Ziel unmittelbar verbunden – um die Weiterentwicklung des Feldes insgesamt. Aufgrund der Förderung durch diverse Sonderprogramme sowie durch zivilgesellschaftliches Engagement von z. B. Menschen mit Migrationshintergrund, People of Color, Sinti*zze und Rom*nja sind zahlreiche Träger entstanden, die sich als Träger politischer Bildung verstehen, aber in keine Unterstützungsstrukturen oder Fachdiskurse eingebunden sind. Hier war es das Anliegen des Projekts, neue Kooperationen einzugehen, den gleichberechtigten Austausch zu suchen, Unterstützung anzubieten und zugleich Perspektiven, die im AdB bislang fehlen, Gehör zu verschaffen und einzubinden.

 

Fasst man die Ziel-Ebenen zusammen, ging es um kritische Überprüfung, Reflexion, Aktivierung und Modernisierung bestehender politischer Erwachsenenbildung sowie um den Ausbau einer vielfältigen Trägerlandschaft und um die Stärkung der Akteure durch Unterstützung und Qualifizierung. Das Know-how der Träger im AdB und deren Erwachsenenbildner*innen sollte zum einen zur Qualifizierung und Weiterentwicklung des Feldes genutzt werden. Zum anderen sollten sich die Träger über konkrete Kooperationen ebenso weiterentwickeln. Damit verbunden ist die Überzeugung, durch Diversifizierung, also die Einbeziehung neuer Akteure, die verbandliche Entwicklung weiter voranzutreiben.

 

Die Kommission Erwachsenenbildung hat das Projekt in den letzten beiden Jahren besonders begleitet. Bei der ersten Sitzung 2022 gab die Projektleiterin Narmada Saraswati einen Einblick in die (Zwischen-)Ergebnisse des Projekts. Gemeinsam wurde überlegt, wie die Themen, Ideen und Zugänge verstetigt und weiterentwickelt und das Gespräch fortgeführt werden kann. Diese Überlegungen sind nicht nur für die Kommission wichtig, sondern für den AdB insgesamt. Viele der im Projekt gelegten Pfade müssen nun für die Strukturen weiter nutzbar gemacht und verstetigt werden. Neben der Veränderung von Strukturen muss aber auch über die Bildungsarbeit gesprochen, müssen neue Formate und thematische Zugänge entwickelt werden.

 

Das Projekt hat bei den Kommissionsmitgliedern und im AdB insgesamt viel bewegt und die Kolleg*innen für das Thema Rassismuskritik sensibilisiert. Die Reflexion über das eigene Team in den Bildungseinrichtungen hat begonnen: Wie sind wir als Team aufgestellt und wie wollen wir zukünftig aufgestellt sein? Bewusste Strategien, um das pädagogische Team zu diversifizieren, sind bisher aber noch selten. Die Erfahrungen mit dem Thema Rassismuskritik in den Seminaren sind sehr unterschiedlich. Die Weiterarbeit an pädagogischen Konzepten steht noch aus.

 

Das Projekt endete im Juni 2022.

 

Die Fachtagung „Polyphonic encounters. Politische Bildung in einer pluralen Gesellschaft weiterentwickeln“, die zum Abschluss des Projekts am 2. Juni 2022 in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin durchgeführt wurde, sowie auch die AdB-Fachtagung zum Jahresthema 2022 „Rassismuskritisch denken lernen. Diversität in Gesellschaft und Demokratie in und mit politischer Bildung stärken“, die am 5. und 6. September 2022 im Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Berlin stattfand (siehe der Bericht zum AdB-Jahresthema), griffen die aktuellen Herausforderungen für die Weiterarbeit an diesen Themen auf.

 

 

Die Fachtagung „Polyphonic Encounters – Politische Bildung in einer pluralen Gesellschaft weiterentwickeln“

Dr. Max Czollek bei seinem Eröffnungsvortrag
Dr. Max Czollek bei seinem Eröffnungsvortrag Foto: AdB

Was muss sich strukturell ändern, damit (historisch-)politische Bildung einer vielfältigen Gesellschaft gerecht wird? Was sind die bisher wenig thematisierten rassismus- und antisemitismuskritischen Leerstellen in Trägerstrukturen und Organisationen der (historisch-)politischen Jugend- und Erwachsenenbildung? Wie kommen wir von einer häufig reinen Proklamation von mehr Diversität ins tatsächliche diversitätsorientierte Handeln? Diese Fragen standen im Fokus der Fachtagung. Die Tagung war eine Kooperationsveranstaltung von AdB und Heinrich-Böll-Stiftung.

 

Dass das Thema einen Nerv traf, wurde an dem großen Interesse an der Tagung deutlich, die bereits nach wenigen Tagen ausgebucht war. In ihren Eröffnungsreden machten Mekonnen Mesghena, Referent der Heinrich-Böll-Stiftung für Migration und Diversity, sowie Narmada Saraswati, Projektleiterin des Polyphon-Projektes, deutlich, warum gerade politische Bildung nach 1945 eine große Verantwortung in Bezug auf das Thema Diversität zukommt, aber gleichzeitig immer noch eine große Diskrepanz zwischen Haltung und Handeln in den eigenen Strukturen zu beobachten sei, wenn es um die Abbildung gesellschaftlicher Vielfalt gehe. So fehle es eindeutig nicht an politischen Bildner*innen of Color, aber sie fehlen ganz häufig in den etablierten Organisationen der außerschulischen politischen Bildung.

 

Dr. Max Czollek, der den Eröffnungsvortrag mit dem Titel „Radikale Vielfalt in der Erinnerungskultur – Erinnerungskultur in der radikalen Vielfalt“ hielt, knüpfte an die Einführungsworte in Bezug auf Erinnerungsnarrative an. Wir haben hier immer noch mit einer gesellschaftlichen Homophonie zu kämpfen, die marginalisierte Stimmen wie die von Jüdinnen*Juden oder Menschen mit Rassismuserfahrung zu wenig berücksichtigt. Eine heterogene demokratische Gesellschaft, die jedoch ein „nie wieder“ ernst nimmt, ist allerdings auf die Perspektivenvielfalt von Minderheiten angewiesen und müsse eine „Gegenwart so einrichten, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt.“ Als Konsequenz daraus folgt, dass Erinnerungskultur mit Diskriminierungskritik zusammengedacht werden muss. Das heißt auch zu lernen, dass es sich bei Vielfalt nicht (nur) um eine harmonische Bereicherung für die Mehrheitsgesellschaft handelt, sondern um eigenständige und selbstbestimmte Stimmen, die gesellschaftliche Dominanzlogiken und damit eine vermeidliche Harmonie in Frage stellen. Gerade in dem offiziellen Gedenken an die Shoah wird die Homophonie sehr deutlich. Hier spielt das Versöhnungs- und Entlastungsnarrativ der Mehrheitsgesellschaft häufig eine wesentlich größere Rolle als die Verhandlung von Gerechtigkeitsfragen, die in vielen Fällen bis in die Gegenwart ausblieb.

 

Der Historiker und Migrationsforscher Dr. Patrice G. Poutrus von der Universität Erfurt konnte mit seinem Input „Jenseits von Vereinheitlichung und Konkurrenz. Über die Schwierigkeiten eine plurale Erinnerungskultur zu etablieren“ gut an Czolleks Vortrag anschließen. Beim Thema Erinnerungskultur reiche es nicht aus nur über die Zeit des Nationalsozialismus zu sprechen, sondern vielmehr müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie es dazu kommen konnte und was die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür waren. Auch müssen wir zwischen „Vergangenheit“ und „Geschichte“ unterscheiden lernen. Vergangenheit ist, was passiert ist und Geschichte ist das, was über die Vergangenheit erzählt wird. Dabei muss beachtet werden, dass hinter Geschichte immer auch Intentionen stehen. Daher sollte auch gefragt werden, welche Geschichten nicht erzählt werden und an was nicht erinnert wird. Gerade aufgrund der deutschen Vergangenheit sollten sich insbesondere Akteur*innen der (historisch-)politischen Bildung mit ihren eigenen familiären Geschichten auseinandersetzen.

 

Ein Podiumsgespräch wurde von Roland Wylezol, Leiter der Jugendbildungsstätte Kaubstraße und Mitglied im Vorstand des AdB, moderiert. Es setzte sich mit rassismus- und antisemitismuskritischen Leerstellen in der non-formalen politischen Bildung auseinander und mit dem Einfluss, den hier die deutsche Geschichte für die Gegenwart spielt. Auf dem Panel diskutierten Prof.in Dr.in María do Mar Castro Varela von der Alice Salomon Hochschule Berlin, Marina Chernivsky vom Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment/OFEK e. V., Isidora Randjelović vom Verein RomaniPhen e. V. und Peggy Piesche von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb.

 

Von der Podiumsdiskussion ging die Fachtagung in eine Workshop-Phase über, die verschiedene Aspekte zu Veränderungsprozessen in Organisationen der politischen Bildung vertiefte. Katja Kinder von der RAA Berlin & ADEFRA e. V. leitete einen Workshop zu „Wahrnehmung – Haltung – Handlung. Rassismuskritische politische Bildungsarbeit – viel mehr als nur eine Methode“, Nursemin Sönmez von den neuen deutschen organisationen – das postmigrantische netzwerk e. V. bot einen Input und Austausch zu „The Nonperformativity of Diversity – Wenn Veränderungsprozesse (nicht) gelingen“ an und gemeinsam mit Samuel Njiki Njiki von der Jugendbildungsstätte Bremen – LidiceHaus setzten sich die Teilnehmenden mit „Nothing About Us Without Us!“ Gestaltungsprozesse demokratisieren: Was bedeutet das für die politische Bildung?“ auseinander.

Die Podiumsdiskussion
Die Podiumsdiskussion Foto: AdB

Das Tagungsprogramm wurde mit einem sehr pointierten und klugen „Lyrical Recording“, einer lyrischen Zusammenfassung der Tagungsinhalte, von Izabela Zarębska von der Jugendbildungsstätte Kaubstraße, abgeschlossen.

 

 

Der Projektbeirat

 

Der Projektbeirat, der das Projekt über die Laufzeit hinweg beraten und unterstützt hat, bestand aus Expert*innen aus Wissenschaft und Praxis:

 

  • Prof. Dr. María do Mar Castro Varela, Alice Salomon Hochschule Berlin
  • Jun.-Prof. Dr. Karim Fereidooni, Ruhr-Universität Bochum
  • Dr. Janosch Förster, Herbert-Wehner-Bildungswerk e. V., Dresden
  • Lena Graser, Türkische Gemeinde in Deutschland e. V.
  • Mazyar Rahmani, neue deutsche organisationen – das postmigrantische netzwerk e. V.
  • Peggy Piesche, Bundeszentrale für politische Bildung/bpb
  • Roland Wylezol, Alte Feuerwache e. V. – Leiter Jugendbildungsstätte Kaubstraße

 

Mit dem Beirat wurden Vorgehen, Arbeitsschritte, Probleme und Ergebnisse diskutiert und ausgewertet. Wegen der anhaltenden COVID-19 Pandemie wurde die 5. und letzte Sitzung des Projektbeirates digital durchgeführt. Neben dem aktuellen Stand wurde das weitere Programm vorgestellt und diskutiert, welche Auswirkungen der Angriffskrieg auf die Ukraine für das Projekt und die politische Bildung habe. Es wurde auf die Gefahr einer „rassifizierten Empathie“ hingewiesen, also der strukturellen Ungleichbehandlung von geflüchteten Menschen in Deutschland. Dies müsse auch in der politischen Bildung diskutiert werden.

 

 

AdB-Forum für politische Bildner*innen of Color

 

Auf Initiative des Projektes „Polyphon“ wurde 2022 ein Raum für kollegiale Austausch- und Vernetzungsmöglichkeiten für BIPoC*, Sinti*zze und Rom*nja-Bildungsreferent*innen aus den AdB-Mitgliedseinrichtungen angeregt. Dieses Forum soll zu einem festen Bestandteil der Verbandsarbeit werden und wird als ein weiterer wichtiger Baustein im diversitätsorientierten Verbandsentwicklungsprozess angesehen, um gesellschaftliche Vielfalt in der politischen Bildung und im AdB zu stärken (siehe dazu den Bericht zum AdB-Jahresthema).

 

 

Workshop zur Verknüpfung von deutscher Kolonialgeschichte und politischer Bildung

 

Vom 14. bis 20. April 2022 fand die Osterakademie der Europäische Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte Weimar (EJBW) statt, bei der die Projektleiterin einen Workshop mit dem Titel „Grenzenlos und unverschämt. May Ayim – post-koloniale Vordenkerin, Poetin und Menschenrechtsaktivistin gegen Rassismus in Deutschland“ durchführte. In dem Workshop fand auf Grundlage eines Kurzfilms eine Auseinandersetzung mit dem Wirken und der Arbeit der afrodeutschen Dichterin, Pädagogin und Menschenrechtsaktivistin May Ayim (1960–1996) statt. In Kleingruppen wurden die Eindrücke des Films reflektiert und über die Konsequenzen diskutiert, die hieraus für rassismuskritische Bildungsarbeit gezogen werden müssen.

 

 

Projektabschluss

 

Zum Abschluss des Projekts wurden mit Unterstützung der Fachtagung am 2. Juni 2022 wichtige Ziele erreicht: Die Weiterentwicklungsbedarfe der Profession politischer Bildung, um einer pluralen Gesellschaft gerecht zu werden, wurden identifiziert und klar benannt. Eine Veränderung ist nur mit der gleichberechtigten Einbeziehung von Stimmen möglich, die von struktureller Diskriminierungserfahrung betroffen sind. Die Auseinandersetzung mit Diversität bedeutet auch, sich mit gewissen Kontinuitäten der deutschen (Gewalt-)Geschichte in Bezug auf Kolonialismus und Nationalsozialismus auseinanderzusetzen sowie daraus Konsequenzen für eine demokratische, gleichberechtigte und vielfältige Gesellschaft und politische Bildung zu ziehen.

 

Darüber hinaus kann festgehalten werden, dass das Projekt Auswirkungen auf die anderen Projekte und Arbeitsfelder im AdB hat. Ob in der politischen Bildungsarbeit mit Kindern, in der digitalen politischen Bildung oder im deutsch-amerikanischen Austauschprojekt, in den unterschiedlichen Fachkommissionen – überall hat das Thema Diversität und Rassismuskritik seinen Niederschlag gefunden. Auf der Bildungsplattform politischbilden.de sind eigene Module zu den Themen Rassismus und Diversität eingestellt mit zahlreichen Hintergrundbeiträgen und Methodenangeboten (https://politischbilden.de).

 

Weitergetragen werden die Projektergebnisse darüber hinaus durch einen diversitätsorientierten Verbandsentwicklungsprozess, der von den Mitgliedern und vom Vorstand angestoßen wurde. Mit externer Unterstützung von Expert*innen wird der 2022 begonnene Prozess auch 2023 fortgesetzt. Eine Arbeitsgruppe bestehend aus Mitgliedern des Vorstands, Vertreter*innen von Mitgliedsorganisationen und Mitarbeiter*innen der Geschäftsstelle wird den Prozess begleiten.