“Demokratie
braucht
politische Bildung”

Diskussionspapier des Arbeitskreises deutscher Bildungsstätten "Kompetenzerwerb und Kompetenzfeststellung in der politischen Bildung"

11.09. 2014

 

Einleitung

 

Wird in Deutschland über Bildung gesprochen, dann ist vor allem vom formalen Bildungssystem die Rede, das von der Schule über die Berufsausbildung bis zur Universität reicht. Die vielfältigen Formen non-formaler Bildung, z. B. im Verein, in der Jugendarbeit oder in der politischen Bildung, werden oft nicht genügend berücksichtig. Seit Jahren wird bildungspolitisch darüber diskutiert, ob und wie die Lernleistungen und Lernerfolge in diesen Bereichen wertgeschätzt, sichtbar gemacht und dokumentiert werden können. Im Zuge dieser Diskussion sind zahlreiche Formen der Anerkennung und Zertifizierung von non-formalen Bildungsprozessen entstanden. Sie tragen z. B. den Titel „Kompetenznachweis“ oder „Kompetenzbilanz“ und verweisen darauf, dass ein Schlüsselbegriff der Diskussion der Kompetenzbegriff ist. Er grenzt sich von der „Qualifikation“ ab, die auf definierte Handlungserfordernisse gerichtet ist, während Kompetenz auf zukünftige Handlungsmöglichkeiten zielt. Allerdings haben sich im Lauf der letzten Jahre zahlreiche Interpretationen und Definitionen des Kompetenzbegriffs entwickelt, die Ausdifferenzierung scheint auch aktuell noch nicht abgeschlossen.

 

Den politischen Hintergrund für diese Debatten und Entwicklungen liefern u. a. das Konzept des Lebenslangen Lernens, die Entwicklung eines Qualifikationsrahmens auf europäischer Ebene (EQR) sowie die Einführung des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR), deren Ziel es ist, in Europa einen gemeinsamen Bildungsraum zu schaffen und Qualifikationssysteme vergleichbar und transparent zu gestalten, um die Mobilität von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen zu erhöhen und die Chancengerechtigkeit zu verbessern.

 

Als Fachverband der politischen Bildung sieht es der Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten (AdB) als eine seiner Aufgaben an, sich mit den genannten bildungspolitischen Entwicklungen auseinanderzusetzen und die innerverbandliche Debatte über das Verständnis politischer Bildung, über den Erwerb von Kompetenzen in der politischen Bildung und über Instrumente für deren Anerkennung und Sichtbarmachung anzuregen. Diese Debatte muss differenziert geführt werden, da politische Bildung in unterschiedlichen Kontexten – Jugendbildung, Weiterbildung, Ausbildung u. a. – stattfindet. Daher sind alle Gremien und die verschiedenen Fachkommissionen des Verbandes in diese Diskussion einbezogen.

 

Das nachfolgende Papier dient zum einen dem Zweck, den aktuellen Stand der Debatte im AdB wiederzugeben, und zum anderen hat es die Aufgabe, die Punkte zu benennen, bei denen die Träger und Einrichtungen im AdB Klärungsbedarf auf fachlicher, politischer oder wissenschaftlicher Ebene sehen.

 

Die Diskussion im Verband ist nicht abgeschlossen und wird weitergeführt werden. Das Papier dient dafür als Grundlage. Meinungen, Anregungen und Kritik auch von außerhalb des AdB sind dabei herzlich willkommen.

 

Verständnis politischer Bildung

 

Die im Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten zusammengeschlossenen Einrichtungen – dazu gehören Bildungsstätten, Akademien, Heimvolkshochschulen, Bildungswerke, Europahäuser und internationale Begegnungsstätten – bieten Jugendlichen und Erwachsenen Angebote der politischen Bildung. Die Angebote für Jugendliche sind Teil der außerschulischen Jugendbildung/Jugendarbeit, die Angebote für Erwachsene sind Teil der allgemeinen außerschulischen und außeruniversitären Weiterbildung.

 

Diese Angebote der politischen Bildung sind freiwillig. Sie gehen von der grundsätzlichen Annahme aus, dass Teilnehmende mündige Bürgerinnen und Bürger und Subjekt ihrer Selbstbildung sind. Die Angebote knüpfen an die Lebenswelt und Interessen der Teilnehmenden an und sind partizipativ angelegt. Sie haben zum Ziel, den Einzelnen zu befähigen, sich politische, soziale und gesellschaftliche Zusammenhänge zu erschließen und aktiv am gesellschaftlichen und politischen Leben teilzunehmen. Dabei geht es nicht nur darum, die Prinzipien und Verfahren der Demokratie als politisches Regelwerk zu verstehen, sondern demokratisches Handeln im Alltag zu verankern. Der zugrundeliegende erweiterte Politikbegriff richtet sich an den zentralen Kategorien von Kommunikation, Konflikt, Interesse, Macht, Konsens, Herrschaft und Willensbildung aus.

 

Die auf diesem Grundverständnis beruhenden Angebote politischer Bildung bieten Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Möglichkeit, Wissen und Kompetenzen zu erwerben und zu zeigen, und zwar solche spezifischen Kompetenzen, die notwendig sind, um Prozesse demokratisch zu gestalten. Dazu gehört es z. B., politische Verhältnisse als historisch gewachsen und veränderbar wahrnehmen zu können, am politischen und gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, kritisch reflektieren, unterschiedliche Perspektiven einnehmen und begründet urteilen zu können. Diese „Demokratiekompetenzen“ sind entscheidend, um als Bürgerin und Bürger aktiv und verantwortlich das eigene Leben und die Umwelt zu gestalten. Und sie sind anschlussfähig an die vom Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament definierten acht „Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen“, zu denen die „Bürgerkompetenz“ ausdrücklich gehört.

 

Keine standardisierte Bewertung

 

Die Angebote der politischen Bildung behandeln Themen, verfügen über ein Programm und ein Bildungsziel, sind aber individuell selbstgesteuert, prozessorientiert und ergebnisoffen und folgen keinem von Dritten festgelegtem Curriculum. Sie ermöglichen damit den Erwerb von Kompetenzen für alle, unabhängig von deren formalen Bildungsvoraussetzungen.

 

Der AdB spricht sich ausdrücklich gegen eine Messung, Bewertung oder Benotung von Bildungsergebnissen in der außerschulischen und außeruniversitären politischen Bildung aus. Die Bildungseffekte der politischen Bildung entziehen sich einer standardisierten Bewertung, wie sie in der formalen Bildung üblich ist. Schulische Messbarkeitsvorstellungen widersprechen dem besonderen Auftrag dieses Arbeitsfeldes, eine mit der Bewertung notwendig einhergehende Formalisierung würde der politischen Bildung ihrer Spezifik berauben.

 

Dies bedeutet jedoch nicht, dem Lernprozess zugrundeliegende Kriterien (z. B.: Lehr-Lernprozess, Qualifikation der Lehrenden, Gruppengröße u. a. m.) nicht zu definieren und Standards zu beschreiben und zu vergleichen.

 

Sichtbarmachung von Kompetenzen

 

Da jedoch unzweifelhaft Kompetenzen in der politischen Bildung vermitteltet werden, erscheint es dennoch sinnvoll, darüber nachzudenken, wie diese reflektiert, sichtbar gemacht und dokumentiert werden können. Für eine Dokumentation von Kompetenzen in der politischen Bildung spricht:

 

  • dass der größte Teil der Lernprozesse im Erwachsenenalter in non-formalen und informellen Lerngelegenheiten stattfindet und auch für Jugendliche die Bedeutung dieses Bereiches belegt ist. Ihn nicht zu berücksichtigen, würde einen wichtigen Teil des Bildungsbereichs ausblenden. Eine Dokumentation von hier erworbenen Kompetenzen würde der Relevanz der außerschulischen und außeruniversitären Bildung gerecht.
  • die damit einhergehende Aufwertung des Arbeitsfeldes, die seine Potenziale sichtbar(er) macht.
  • das Interesse der Teilnehmenden, die über die Bewusstwerdung eigener Kompetenzen einen Zuwachs an Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit erfahren.

 

Zudem ist zu beachten, dass außerschulische politische Bildung in unterschiedlichen Kontexten stattfindet. Neben Jugendbildungsmaßnahmen im Rahmen von Jugendhilfe und Angeboten für Erwachsene im Rahmen von Weiterbildung findet politische Bildung z. B. als Multiplikatorenschulung statt, im Rahmen von Ausbildungen, als Bestandteil des Studiums etc. Solche Angebote schließen in der Regel mit einem Zertifikat ab. Dies bietet sich für eine Sichtbarmachung der hier erworbenen Kompetenzen an.

 

Klärungsbedarf

 

Die Diskussion über Kompetenzen in der politischen Bildung ist noch nicht abgeschlossen und wird weitergeführt. Sie wird mit dem Ziel geführt, der Spezifik des Arbeitsfeldes gerecht zu werden, der Gefahr der Verzweckung und Formalisierung zu entgehen und die Vielfalt von Trägern, Angeboten, Formaten, Themen, Methoden zu erhalten. Dafür bedürfen folgende Punkte einer Klärung bzw. Einigung:

 

  • Kompetenzbegriff

Kompetenzen sind „die Dispositionen eines Menschen, eines Teams, einer Organisation oder eines Unternehmens, in Situationen mit unsicherem Ausgang selbstorganisiert zu handeln.“ (Erpenbeck/von Rosenstiel 2003). Kompetenzen zielen auf die Zukunft und sind auf künftige Anforderungen und Herausforderungen gerichtet. Sie zeigen sich in der Umsetzung, in der „Performanz“. Wenn Kompetenzen in der politischen Bildung dokumentiert werden sollen, dann muss vorab geklärt sein, welcher Kompetenzbegriff genutzt wird. Denn die Frage, welcher Kompetenzbegriff zugrunde gelegt wird, ist von entscheidender Bedeutung und bedarf der sorgfältigen Auswahl und Begründung. Der ausgewählte Begriff muss tragfähig sein für die Prinzipien der politischen Bildung, das sind Freiwilligkeit, Partizipation, Lebensweltbezug, Ergebnisoffenheit und Teilnehmerorientierung. Und der gewählte Begriff muss dem emanzipatorischen Ansatz der politischen Bildung entsprechen. Ein schulisch geprägter Begriff ist für die außerschulische Bildung nicht brauchbar.

 

  • Instrumente

Die Instrumente zur Dokumentation von Kompetenzen müssen am Selbstverständnis der politischen Bildung orientiert sein, d.h. sie müssen wertschätzend, transparent und nachvollziehbar sein. Des Weiteren müssen die Teilnehmenden in einem dialogischen Verfahren an der Reflexion und Dokumentation beteiligt werden. Tests oder Fremdbeurteilungen empfehlen sich nicht, da es nicht um eine Beurteilung von außen geht, sondern um die Stärkung der Handlungs- und Reflexionskompetenz der Teilnehmenden.

 

  • Freiwilligkeit

Die Dokumentation von Kompetenzen in der politischen Bildung muss grundsätzlich freiwillig sein und nicht etwa zur förderrechtlichen Voraussetzung erhoben werden. Jede Einrichtung muss sich entscheiden können, ob sie ein solches Verfahren einführt, und die Teilnehmenden müssen sich entscheiden können, ob sie Interesse haben, an einem solchen Verfahren teilzunehmen. Gerade in der politischen Bildung wird es immer Angebote geben, die sich einem solchen Verfahren entziehen. Dies muss dauerhaft möglich sein.

 

  • Ressourceneinsatz

Die Feststellung von Kompetenzen etwa im Rahmen eines dialogischen Verfahrens, die Begleitung der Teilnehmenden sowie die notwendigen zusätzlichen Vor- und Nachbereitungen erfordern einen hohen Personaleinsatz, den die Einrichtungen nicht ohne zusätzliche Unterstützung leisten können. Ressourcen und Fortbildungsmöglichkeiten müssen dafür bereitgestellt werden. Außerdem bedarf es der Entwicklung von Qualitätskriterien und Beschreibung von Standards.

 

  • Benachteiligung abbauen

Es kann vermutet werden, dass wertschätzende Verfahren der Sichtbarmachung von Kompetenzen für Teilnehmende motivationsfördernd wirken, zu mehr Selbstbewusstsein führen und Benachteiligungen ausgleichen können, insbesondere dann, wenn im formalen Bildungssystem Benachteiligungen erfahren wurden oder werden. Es muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Erfassung, Dokumentation und Zertifizierung von Lernergebnissen nicht ohne Folgen für die Lernprozesse selbst bleiben. Dies könnte ungewollt zu einer Reproduktion sozialer Ungleichheit führen. Um dieser Gefahr zu entgehen, braucht es dringend einer wissenschaftlichen Begleitforschung, die nah an der Praxis ist.

 

Einordnung in den DQR

 

Im Kontext der Diskussion über Kompetenzen in der politischen Bildung stellt sich auch die Frage, ob eine Einordnung von Angeboten in den Deutschen Qualifikationsrahmen (DQR) angestrebt werden soll. Der DQR ist bisher darauf angelegt, die im formalen Bildungssystem erworbenen und bescheinigten Qualifikationen zu kategorisieren und damit vergleichbar zu machen. Die Perspektive der Verantwortlichen für die Ausgestaltung des DQR ist damit auf schulische, universitäre und berufliche Bildung gerichtet. Die allgemeine Weiterbildung und die politische Bildung im Besonderen kommen in diesem Modell bisher nicht vor.

 

Für eine Berücksichtigung der in der politischen Bildung erworbenen Kompetenzen müsste der DQR ein offenes Referenzsystem darstellen. Ob der DQR künftig tatsächlich einen geeigneten Rahmen bieten kann, um Kompetenzen der politischen Bildung angemessen abzubilden, ist fraglich und muss diskutiert werden. Eine Einordnung in den DQR in seiner jetzigen Form jedenfalls würde eine Formalisierung der nicht-formalen Bildung vorantreiben, die damit ihre besonderen Qualitäten verlieren würde.

 

Derzeit ist es nur sinnvoll, solche Angebote in den DQR einzuordnen, die in Kooperation mit Universitäten durchgeführt werden oder im Rahmen von Fort- und Weiterbildungen mit Zertifikaten abgeschlossen werden.

 

 

Arbeitskreis deutscher Bildungsstätten
Berlin, September 2014